Mittwoch, Oktober 2

Der Vater ermordet, die Mutter verhungert, die Lehrerin zerstückelt: Michaela Mabinty DePrince erfuhr als Kind den Horror des Bürgerkriegs von Sierra Leone. Im Waisenhaus träumte sie vom Ballett. Der Tanz wurde ihre Rettung.

Als Achtjährige sollte Michaela DePrince die Hauptrolle im Ballett «Der Nussknacker» tanzen. Das Mädchen aus Sierra Leona war vor vier Jahren von einem Ehepaar aus dem amerikanischen Gliedstaat New Jersey adoptiert worden. Nach hartem Training hatte sie die Rolle des Mädchens Marie bekommen. Doch kurz vor der Aufführung wurde ihr gesagt, dass ein anderes Mädchen die Rolle tanzen würde. Begründung: Die Leute seien noch nicht bereit für eine schwarze Marie. Ein Ballettlehrer sagte dem Mädchen: «Wir investieren nicht in schwarze Mädchen, sie werden eh nur fett und kriegen grosse Brüste.»

Michaela De Prince dachte damals kurzzeitig darüber nach, das Ballett aufzugeben, doch dann sah sie die schwarze Tänzerin Heidi Cruz in einer Aufführung des Pennsylvania Balletts. Diese hätte sie inspiriert, weiter zu tanzen. DePrince sollte zu einer der besten Ballerinen der Welt werden. Nun ist sie mit 29 Jahren gestorben.

Der Vater ermordet, die Mutter verhungert, die Lehrerin zerstückelt

Michaela DePrince tanzte viele Rollen – doch ihr eigenes Leben übertraf die Dramatik der Stücke.

1995 wurde sie als Mabinty Bangura in Sierra Leone geboren. Damals herrschte Bürgerkrieg in dem westafrikanischen Land, der Hunderttausenden das Leben kostete. Mabintys Vater wurde bei der Arbeit in Diamantminen von Rebellen ermordet. Kurze Zeit später verhungerte ihre Mutter. Da war das Kind drei Jahre alt. Der Onkel gab es in ein Waisenhaus. Dort wurde es wegen seiner chronischen Erkrankung Vitiligo ausgegrenzt. Vitiligo ist eine Pigmentstörung, die weisse Flecken auf der Haut verursacht. Im Waisenhaus sagte man Mabinty, sie sei verflucht und nannte sie «Teufelskind».

Eines Tages sah DePrince das Bild einer Ballerina auf einem Magazincover. Der Wind habe es ihr zugeweht. Sie sei von der Tänzerin fasziniert gewesen, von deren Schönheit und Fröhlichkeit. «Das Bild stand für Freiheit, für Hoffnung, für den Versuch, ein wenig länger zu leben», sagte DePrince in einem «CNN»-Interview.

Hoffnung und Überlebenswille konnte DePrince gut gebrauchen. Das Waisenhaus hatte die 27 Kinder nach Beliebtheit und Vermittelbarkeit für eine Adoption nummeriert. DePrince war «Waise Nummer 27», die letzte in der Hackordnung, wurde ausgegrenzt, bekam kaum Beachtung und wenig Nahrung. Nur in «Waisenkind Nummer 26», das ebenfalls Mabinty hiess und als Linkshänderin und Bettnässerin verspottet wurde, fand sie eine Freundin.

Mabinty wurde auch Zeugin extremer Grausamkeiten. Sie musste mit ansehen, wie Rebellen eine schwangere Betreuerin, einer der wenigen, die sich um sie gekümmert hatte, verstümmelten. Auch DePrince selbst trug durch den Angriff eine Narbe davon.

Feenstaub auf der Haut

1999 wurde Mabinty von einem Ehepaar aus den USA adoptiert, zusammen mit ihrer Freundin Mabinty, der «Nummer 26». Die Adoptiveltern zogen die Mabintys, nun Michaela und Mia genannt, zusammen mit ihren anderen Adoptivkindern gross. Von Beginn an habe sie soviel Liebe gespürt, sagte Michaela DePrince in einem Interview: «Ich war noch nie zuvor von so etwas umgeben gewesen.»

Sie hatte ihrer Adoptivmutter bereits bei der Abholung in Afrika den Zeitungsausschnitt mit der Ballerina gezeigt. In ihrem neuen Zuhause in den USA meldeten die Eltern Michaela beim Ballett an. Ihre Mutter unterstützte die Tochter auch moralisch. Als das Mädchen glaubte, wegen seiner Pigmentstörung niemals eine Ballerina werden zu können, versicherte ihm die Mutter, die Flecken sähen aus wie Feenstaub. Es ist auch ihre Mutter, die die standardmässig rosa-weissen Spitzenschuhe und Kostümbänder tiefbraun färbte, damit sie zu Michaelas Hautfarbe passen. Zusammen mit ihrer Mutter schrieb DePrince später ihre Autobiographie «Taking Flight: From War Orphan to Star Ballerina.»

Im Alter von 14 Jahren erhielt DePrince ein Stipendium für den Besuch der Jacqueline Kennedy Onassis School, um Ballett zu studieren. Auch vom weltgrössten internationalen Ballettwettbewerb, dem Youth America Grand Prix, kehrte sie mit einem Stipendium zurück. De Prince wurde jüngste Tänzerin im Dance Theatre of Harlem. Weitere Berühmtheit erlangte sie im Film «First Position» und später durch Beyoncées Musikvideo «Freedom».

Ballerina Michaela DePrince’s Remarkable Journey | Megyn Kelly | NBC News

2014 trat sie dem Niederländischen Nationalballett bei, wo sie rasch zur Solistin aufstieg. Unter anderem tanzte sie die Marie im «Nussknacker», – die Rolle, die sie als Achtjährige wegen ihrer Hautfarbe hatte wieder abgeben müssen – und als Solistin in «Schwanensee».

Wer Michaela DePrince sah, ob Ballettdirektor, Trainer oder Zuschauer, war sofort eingenommen von ihrer physischen Präsenz, ihrer Technik und dem spürbaren Willen, erfolgreich zu sein. Sie wurde eine der Tänzerinnen mit der grössten Sprungkraft, sie flog förmlich durch die Luft – als ob sie die Schwerkraft besiegt hätte, wie die «Teen Vogue» bereits 2012 titelte.

Doch auch wenn ihr Tanz so federleicht aussah, erforderte er ein Menge Arbeit: «Es ist kein Märchen. Du musst hart arbeiten. Es gibt viele Verluste, es gibt viel Schmerz. Aber ich liebe es, aufzutreten.», sagte DePrince in einem Interview.

Gleichzeitig war sie eine gefragte Interviewpartnerin und Motivations-Speakerin. Michaela DePrince setzte sich für die Rechte von Kindern in Kriegsgebieten ein, flog für die Organisation War Child immer wieder in Krisengebiete wie Uganda und Libanon, um mit Kindern zu tanzen und sie dadurch mental zu stärken.

2020 zog sich Michael DePrince aus dem Medien- und Ballettrummel zurück. Sie wolle herausfinden, welche Art von Tänzerin sie sein wolle, teilte sie damals mit. 2022 schien sie die Kraft für den Tanz wiedergefunden zu haben, sie kehrte Europa den Rücken und wechselte zum Boston Ballett.

Es ist nicht bekannt, woran Michaela DePrince am vergangenen Dienstag gestorben ist. Nur wenige Stunden später starb ihre Adoptivmutter während der Vorbereitungen für eine Routineoperation. Vom Tod ihrer Tochter hatte sie nicht mehr erfahren.

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