Freitag, November 29

Sie hiess zunächst Fabrizio, ging gerne laufen und spielte Fussball. Nun gewinnt Valentina Petrillo als Para-Leichtathletin Medaillen bei den Frauen. Was auch in ihrem Heimatland Italien längst nicht alle gut finden.

In den Interviews, die Valentina Petrillo in den vergangenen Monaten gegeben hat, sprach sie weniger über Medaillen und Titelwünsche, sondern eher über ihre gesellschaftliche Rolle. «Ich hoffe, dass ich eine Referenz und Inspiration sein kann», sagte die sehbehinderte Sprinterin aus Italien der Nachrichtenagentur AFP. «Wenn ich es geschafft habe, können es auch andere schaffen.»

Petrillo ist zurzeit in Paris an den Paralympics. Sie ist zwar nicht die erste Trans-Athletin in der Geschichte der Paralympics, wie zuletzt vielfach berichtet wurde. Denn 2016 in Rio de Janeiro hatte bereits die niederländische Trans-Diskuswerferin Ingrid van Kranen an den Spielen teilgenommen. Doch Petrillo, die in Paris in der Kategorie T12 über 200 und 400 Meter starten wird, dürfte mehr Aufmerksamkeit erregen. Schon jetzt wird ihre Biografie international kontrovers diskutiert.

Petrillo sagt: «Ich bin mit angezogener Handbremse gelaufen und war nicht glücklich»

Petrillo wurde bei der Geburt im Jahr 1973 das männliche Geschlecht zugewiesen. Sie hiess zunächst Fabrizio, ging gerne laufen und spielte Fussball. Im Alter von 14 Jahren wurde bei ihr Morbus Stargardt diagnostiziert, eine seltene Erkrankung der Netzhaut, ihre Sehfähigkeit sank auf 2,5 Prozent.

Einige Jahre später, während ihres Informatikstudiums, begann Petrillo mit Leistungssport. Sie schaffte es ins italienische Männer-Nationalteam im Blinden-Futsal und nahm in der Para-Leichtathletik an Wettbewerben in männlichen Kategorien teil. Sie gewann regionale und nationale Titel, qualifizierte sich aber nicht für internationale Wettkämpfe. «Ich bin mit angezogener Handbremse gelaufen und war nicht glücklich», sagte Petrillo der BBC. «Mit Sicherheit nicht so glücklich wie jetzt, auch wenn ich ein wenig älter geworden bin.»

Schon seit Jahrzehnten habe sie sich als Frau gefühlt, erzählt Petrillo in einer Dokumentation, die im Herbst in italienischen Kinos anlaufen soll. Mit 9 Jahren habe sie Kleidung ihrer Mutter anprobiert. Sie fragte sich: «Ist es besser, ein schneller, aber trauriger Mann zu sein, oder eine langsamere, glückliche Frau?» Mit 45 Jahren begann Petrillo eine geschlechtsangleichende Hormontherapie. Seit September 2020 tritt sie bei Wettbewerben in Frauenkategorien an.

Der Verband World Para Athletics betrachtet das rechtliche Geschlecht als massgeblich für die Zulassung. Zudem ist der Testosteronwert bei Petrillo während ihrer Hormontherapie unter den maximal erlaubten Wert von 10 Nanomol pro Liter Blut gesunken. Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) überlässt solche Kriterien seinen Fachverbänden.

Valentina Petrillo - Atletica #paris2024

Vergleiche mit der algerischen Box-Olympiasiegerin Imane Khelif

Interessant ist, dass Petrillo ohne Behinderung wohl nicht in Frauenkategorien starten dürfte. Der internationale Leichtathletikverband World Athletics lässt Trans-Sportlerinnen nur zu, wenn sie ihre Geschlechtsangleichung vor Beginn der Pubertät abgeschlossen haben. Andrew Parsons, der Präsident des IPC, sagte in einem Videointerview: «Wir stehen erst am Anfang einer komplizierten Debatte. Wir müssen in der Sportgemeinschaft nach einheitlichen Lösungen suchen, die wissenschaftlich fundiert sind.»

Von solchen Lösungen ist der internationale Sport noch weit entfernt. In etlichen Meinungsbeiträgen wird Valentina Petrillo mit Imane Khelif verglichen. Die algerische Boxerin war wegen erhöhter Testosteronwerte vom Boxweltverband IBA disqualifiziert worden, sie durfte aber an den Olympischen Spielen in Paris starten. Khelif, die sich als Frau identifiziert und nie eine Transition vollzogen hat, gewann Olympiagold und geht nun juristisch gegen Diskriminierungen vor.

Auch Valentina Petrillo erlebt seit Jahren Anfeindungen, wie sie der BBC berichtete. Zunächst versuchte sie, auf Hasskommentare in den sozialen Netzwerken mit Argumenten zu reagieren. Bald darauf erhielt sie sogar Morddrohungen.

In Italien, wo die rechtsnationale Regierung von Giorgia Meloni immer wieder gegen die «Trans-Ideologie» Stimmung macht, unterzeichneten 2021 mehrere Sportlerinnen und Sportler sowie aktivistische Gruppen eine Petition, die den Ausschluss von Petrillo von Frauenwettbewerben fordert. Mit dem Statement: Petrillos körperliche Überlegenheit mache den Wettbewerb unfair.

Doch sportlich ist Petrillo nicht dominant. Im Vergleich zu ihren Auftritten in Männerkategorien, sagt sie, sei ihre Zeit über 200 Meter um 2,5 Sekunden langsamer. Über 400 Meter sei sie sogar 11 Sekunden langsamer. An den Para-Leichtathletik-WM 2023 gewann sie über beide Strecken die Bronzemedaille. Petrillo betont, nicht mehr die gleiche Energie zu haben wie früher und dass sie in der Zwischenzeit zehn Kilogramm zugenommen habe: «Mir ist immer kalt, mein Schlaf ist nicht mehr der gleiche, ich habe Stimmungsschwankungen.»

Fortschrittlicher Vorschlag oder pure Provokation?

Die paralympische Bewegung betrachtet sich als Netzwerk gegen die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen. Nun, in der Diskussion um Petrillo, wirkt sie jedoch so unvorbereitet wie viele andere Sportverbände. Auch in der Wissenschaft gibt es noch keine belastbaren Studien zu den drängenden Fragen: Sind Trans-Athletinnen auch nach ihrer Geschlechtsangleichung im Vorteil, wenn es etwa um Muskelkraft, Lungenvolumen oder Ausdauerfähigkeit geht?

Valentina Petrillo bietet Anlass, diese Debatte zu vertiefen. Ähnlich wie die neuseeländische Gewichtheberin Laurel Hubbard, die 2021 in Tokio als erste Trans-Sportlerin an den Olympischen Spielen antrat.

Petrillo nimmt diese Rolle an und stellt sich auf eine Zunahme der Anfeindungen ein, zusammen mit ihrem Mentaltrainer. Zudem stellt sie Ideen zur Diskussion. Dem Berliner «Tagesspiegel» schlug sie vor, die Trennung im Sport zwischen zwei Geschlechtern aufzulösen. Man könne Frauen und Männer in der Para-Leichtathletik auf der Grundlage von Klassifizierungszeiten gemeinsam starten lassen. Es ist ein Vorschlag, den viele als fortschrittlich betrachten dürften. Und andere als pure Provokation.

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