Präsident Vucic hat den Machtmissbrauch zu weit getrieben. Es ist Zeit für Neuwahlen.
Die grosse Kundgebung in Belgrad vom Wochenende war eine Demonstration von Bürgersinn und politischer Reife. Um die 300 000 waren gekommen, um für die Rückkehr zu Rechtsstaat und Gewaltenteilung in Serbien zu demonstrieren. Sie taten dies wie immer in den letzten vier Monaten: gewaltlos, diszipliniert und optimistisch. Die Versuche von Provokateuren, Krawalle auszulösen, schlugen fehl. Die Bürger wichen einfach aus. Sie durchschauen das Spiel.
Auslöser des Protests war im November der Einsturz eines Bahnhofdaches in Novi Sad gewesen, der fünfzehn Menschen erschlug. Schlamperei und Behördenkorruption hatten den Unfall verursacht. Sie sind das Symptom einer Parteiherrschaft, die die staatlichen Institutionen voll unter ihre Kontrolle gebracht hat. Wer sich als Funktionär der Regierungspartei bereichert, wird im Zweifel vor dem Recht geschützt. Dafür verlangen die Partei und Präsident Aleksandar Vucic absolute Loyalität.
Vucic regiert Serbien seit zwölf Jahren. Er hat seine Macht in einem Ausmass konzentriert und personalisiert, wie das in Europa einzigartig ist. Obwohl von Amtes wegen nicht befugt, leitet er Regierungssitzungen, die er gelegentlich am Fernsehen übertragen lässt. Dann können die Bürger der Macht im Vollzug zuschauen, sie bewundern und fürchten: Vucic erteilt den Ministern Aufträge oder staucht sie zusammen.
Die Antwort auf die totale Personalisierung der Macht ist eine Protestbewegung ohne Anführer und ohne Organisationskomitee. Alle Entscheidungen werden direktdemokratisch in den Plenen getroffen. Das dient dem Schutz vor Repression. Aber ebenso entspringt das Plenum dem Wunsch, Macht nicht zu delegieren, sondern als Willensausdruck von «Gleichen unter Gleichen» zu verstehen.
Wie soll es jetzt weitergehen? Mit ihren Märschen durch das Land haben die Studentinnen und Studenten den eingeschlafenen Bürgersinn geweckt. Serbien ist auf den Beinen. Doch die Grosskundgebung in Belgrad lässt sich nicht mehr überbieten, jetzt einfach weitermarschieren bringt nichts. Die Machtfrage muss gestellt werden.
Sie muss durch freie und faire Wahlen beantwortet werden. Doch das wird nicht einfach. Denn das System Vucic sorgt durch die Kontrolle von Medien und Staatsapparat dafür, dass seine Gegner chancenlos bleiben. Allerdings auch deshalb, weil die meisten Oppositionsparteien verbraucht, schwach und zerstritten sind.
Die Studenten haben unterschiedliche Vorstellungen: Die einen plädieren für eine technische Regierung, deren hauptsächliche Aufgabe darin bestehen soll, freie Wahlen zu organisieren. Andere wollen den Protest fortsetzen und träumen davon, mit den Plenen einer neuen Form der basisdemokratischen Selbstverwaltung zum Durchbruch zu verhelfen. Doch die Idee, durch den Aufbau eines Parallelsystems das Regime von Vucic zum Einsturz zu bringen, ist weltfremd.
Bevor die politische Energie des Protests sich erschöpft, sollte sich daraus eine koalitionsfähige Bewegung bilden. Dafür sind klare politische Ziele, eine effiziente Organisation und auch Führungspersonen notwendig. Ohne Zweifel gibt es dafür ein Reservoir an jungen Talenten im Land. Zusammen mit glaubwürdigen Figuren aus der Opposition, den Gewerkschaften und Verbänden sollten sie für die Organisation von fairen Wahlen kämpfen.
Vucic wird alles tun, um das zu verhindern. Es ist deshalb Zeit, dass die EU ihre wirtschaftlich eigennützige und geopolitisch fragwürdige Zurückhaltung gegenüber Vucic aufgibt. Dem Regime in Serbien sollte klargemacht werden, dass es unter scharfer Beobachtung steht. Wenn es nicht Hand bietet für einen demokratischen Ausweg aus der Krise, müssen die Verantwortlichen mit Sanktionen belegt werden.