Samstag, März 29

Die Netflix-Produktion erzählt die Geschichte eines Teenagers, der eine Mitschülerin getötet hat. Sie hämmert dem Zuschauer erbarmungslos ein, was sich in den dunklen Ecken der sozialen Netzwerke findet.

Jamie Edward Miller, das lernt der Zuschauer in der letzten Folge von «Adolescence», sass jeden Abend und bis spätnachts an seinem Computer. «Wir glaubten, hier sei er sicher», sagt die Mutter zum Vater, während sie auf Jamies leerem Bett vor der mit Planeten bedruckten Tapete sitzen. Das ist kein Spoiler, es nimmt nichts vorweg. Dass der 13-Jährige nicht wieder nach Hause kommen wird, ist bereits nach der ersten Folge klar. Seine Verhaftung ist nur die Klammer für eine Geschichte, in der es um die Frage geht: Warum ermordet ein Teenager seine Mitschülerin?

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Klassischerweise würde Netflix einen solchen Stoff als Rückblicks-Thriller aufziehen, als Gerichtsfilm oder beides kombiniert. «Adolescence» tut nichts davon. Jede der vier Folgen betrachtet einen anderen Zeitpunkt – Tag eins, Tag drei, sieben Monate später und dreizehn Monate nach der Tat – und einen anderen Ort. Neben der Polizeiwache unmittelbar nach der Verhaftung sind das die Schule, das geschlossene Schulungsheim, in dem Jamie untergebracht wird, und sein Elternhaus. Die erste Episode beginnt damit, wie die Polizei das Zuhause der Familie Miller stürmt, um Jamie (Owen Cooper) festzunehmen, während seine Eltern (Stephen Graham, Christine Tremarco) und seine Schwester (Amélie Pease) entsetzt und verwirrt zuschauen, weinen und flehen.

Das Chaos bricht nicht ab. Die Kamera begleitet Jamie, er wird zur Polizeistation gebracht, er wird aufgefordert, sich nackt auszuziehen, wird abgetastet, während sein Vater in hilfloser Verzweiflung danebensteht. Er wird verhört. «It wasn’t me» beteuert er. Die Polizei zeigt dem Angeklagten das Überwachungsvideo, auf dem – verschwommen zwar, aber eindeutig – zu sehen ist, wie Jamie auf seine Mitschülerin Kathie einsticht. «It wasn’t me», sagt er.

Düsterer Realismus

Jede der vier etwa einstündigen Episoden wurde ohne Schnitt gefilmt. Die Kameraführung verstärkt das Gefühl von Hektik, Panik und Überforderung. Der Fokus pendelt zwischen dem Ermittler und Jamies Vater (Stephen Graham), bleibt stets in Bewegung und folgt den Figuren von einem Handlungsstrang zum nächsten. Diese Technik setzte der Regisseur Philip Barantini bereits 2021 in seinem Film «Boiling Point» ein, auch mit Graham in der Hauptrolle, der die Konflikte in einer Restaurantküche thematisiert. In «Adolescence» hat Barantini die Echtzeit-Erzählweise nun perfektioniert.

Bei der Suche nach der Mordwaffe und dem Motiv kommt die Polizei zunächst nicht weiter. Bis sie der Sohn des Ermittlers aufklärt. Über die besondere Sprache der Jugendlichen untereinander – und wie sie sich auf Instagram unterscheidet von der Kommunikation in der anderen Welt. «Alles hat eine Bedeutung», sagt er, selbst die Farben von Herz-Emojis. Jamie wurde gemobbt – nicht mit klassischen Beleidigungen, sondern mit Symbolen, die für Erwachsene meist nur dekorativ wirken, für Teenager jedoch eine klare Botschaft tragen. Er wurde als «Incel» (übersetzt in Emoji-Sprech: die Bohne) beschimpft, also als «Involuntary Celibat», als jemand, der unfreiwillig Jungfrau ist und bleibt. Die sogenannten Incels bilden eine Subkultur. In Foren verbreiten sie frauenverachtende Inhalte und Gewaltphantasien.

«Magst du mich?»

Der Drehbuchautor Jack Thorne sagte in einem Interview, er sei für die Vorbereitung der Serie sechs Monate lang «in sehr dunkle Löcher» von «Incel»-Inhalten eingetaucht. Er habe sich der düsteren Arithmetik dieser Weltanschauung ausgesetzt – des Glaubens, dass 80 Prozent der Frauen sich nur zu 20 Prozent der Männer hingezogen fühlen, so dass man Mädchen manipulieren müsse, wenn man Sexualpartner finden wolle. Er stolperte in die Bubble, die man als «Manosphere» bezeichnet und deren Mitglieder davon ausgehen, dass es als soziales Korrektiv eine Rückeroberung ursprünglicher Männlichkeit brauche. Die Idee zu «Adolescence» stammt nicht aus einer wilden Fantasie, sondern aus einer präzisen Beobachtung der Realität. Was diese für junge Menschen bedeuten kann, hämmert einem die Serie erbarmungslos ein.

«Adolescence» lässt den Zuschauer spüren, was auch die Figuren durchleben. Die Kamera richtet den Blick dann weg vom Zentrum des Geschehens, hin auf die Menschen, die sich zurückziehen, die in einem Gespräch gerade schweigen und zuhören. Man kommt ihnen fast unangenehm nah. Das ist nicht zuletzt dem eindrucksvollen Ensemble zu verdanken – allen voran Owen Cooper. Er spielt den Jungen, der mit seiner aufkeimenden Sexualität überfordert ist – und sich zugleich so sehr in extremistische Gedanken verstrickt, dass er seine Mitschülerin tötet. Aus verletztem Stolz? Weil sie ihn zurückweist? Die Hintergründe sind weitaus komplexer.

Die innere Zerrissenheit von Jamie wird besonders deutlich in dem späteren Gespräch mit einer Psychologin (Erin Doherty), die ihn einschätzen soll. Der Atemrhythmus von Jamie bestimmt den Takt der Folge. Für quälende 60 Minuten schleicht die Kamera um die beiden Darsteller. Der 13-Jährige wechselt dabei abrupt zwischen Annäherung und Aggression – er flirtet zunächst, beleidigt sie dann, schreit sie schliesslich an, als er herausgeführt wird. «Magst du mich?»

Schock als Eingangstor

Die «Times of London» nennt es das «TV-Drama, das sich alle Eltern ansehen sollten». Es hat die Diskussion darüber neu entfacht, ob der Zugang von Kindern zu Smartphones gesetzlich eingeschränkt werden sollte, um sie zu schützen. Vergangene Woche sagte der englische Premierminister Keir Starmer, dass er «Adolescence» mit seinen beiden Kindern schaue. Es seien Massnahmen erforderlich, um die «fatalen Folgen» zu bekämpfen, die sich aus schädlichen Online-Inhalten ergäben.

Der Macher der Serie ist zwar im echten Leben für ein Handy-Verbot für Kinder unter 16 Jahren, macht aber in der Serie die Technologie nicht alleine verantwortlich.

Jamies Schule ist unterfinanziert, die Lehrer sind zu gestresst und überarbeitet, um Mobbing zu unterbinden. Die Polizei weiss nicht, wie Teenager in den sozialen Netzwerken miteinander kommunizieren, die Freunde und die Familie des Jungen ahnten nicht, wozu er fähig war. «Adolescence» gibt keine Antworten. Weil die Serie nicht versucht, didaktisch zu sein, lässt sie einen nicht mehr los. Sie ist keine Qual um der Qual willen. Sie nutzt den Schock als Eingangstor.

Adolescence | Official Trailer | Netflix

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