Mittwoch, Oktober 2

Die Lieblingsdekade der Modewelt mag schon ausreichend seziert worden sein, aber selten mit so viel Spass – und so spektakulären Sofas –, wie es «In Vogue: The 90s» tut.

Anna Wintour hat verkündet, der Körper sei zurück: «The body is back», titelte die Chefredaktorin früh in den neunziger Jahren im Editorial einer Ausgabe der amerikanischen «Vogue», und so war es geschehen. Dies zumindest lässt eine neue Serie das Publikum auf der Streamingplattform Disney+ glauben. «In Vogue: The 90s» rekapituliert in sechs Folgen die Dekade, die mit ihren exzessiven Shows und kontroversen Trends, mit ihren Hollywoodstars und Stardesignern die Mode zu einem grösseren Phänomen machte als je zuvor.

Disney+ | In Vogue: The 90s | Trailer | Deutsch

Die «Vogue», einst Modemagazin und heute Modemagazin mit kommerziellen Logopullovern, Events und eigenem, hier massgeblich beteiligtem Produktionsarm, ist dabei zugleich Chronistin und Diktatorin. Oder «dictateur», wie es die französische Moderedaktorin Carlyne Cerf de Dudzeele in der Serie sagt, ganz tief aus der Kehle und mit einem gigantischen Kreuz aus Perlen um den Hals. Es sind vier ihrer einflussreichen Weggefährtinnen und Weggefährten, die bei der Produktion «In Vogue» federführend und exekutivproduzierend waren: Anna Wintour, Tonne Goodman, Edward Enninful und Hamish Bowles.

Bowles relativiert die Aussage von Wintour denn auch gleich: Dass die «Vogue» damals so stark auf den Körper gesetzt habe, sei eine Reaktion auf die Grunge-Bewegung mit ihren lottrigen Kleidern gewesen. Denn diese habe den meisten Redaktoren nicht gemundet. Stattdessen musste ein Plädoyer für den Glamour her, und Anna Wintour lieferte es.

Kontext für die Generation Tiktok

Mit ihrem Wissen, ihrem Witz und nicht immer denselben Meinungen erzählen die Star-Redaktoren also die Geschehnisse der Dekade aus ihrer Sicht, zusammengeschnitten mit Archivaufnahmen, Magazinseiten und Zeitungsartikeln. Das beginnt bei der Ernennung von Anna Wintour zur Chefredaktorin der amerikanischen «Vogue» im Jahr 1988 und geht im Schnelldurchlauf über den Grunge und den Heroin-Chic zu den Supermodels und dem wachsenden Einfluss von Prominenten.

Vieles ist nicht neu. Auch nicht für jene, die es nicht selbst erlebt haben: Dank Serien wie «The Super Models», Filmen wie «High & Low: John Galliano» und Ausstellungen wie «1997: Fashion Big Bang» im Pariser Palais Galliera sind die neunziger Jahre aus Modeperspektive jüngst schon bestens beleuchtet worden.

Doch «In Vogue» setzt das alles in einen Kontext. «Damit die Menschen es sehen, verstehen und wirklich lernen können», erklärte die langjährige Redaktorin Tonne Goodman gegenüber dem «Hollywood Reporter» das Ziel der Serie. Verstehen und lernen, wie sehr die neunziger Jahre die Modebranche veränderten, wird doch gerade diese Dekade wieder zelebriert, insbesondere auf den sozialen Netzwerken.

Tatsächlich scheinen die Episoden mit ihrem Tempo und den ständigen Soundbites wie für die Generation Tiktok gemacht. Langweilig wird einem nicht. Zweifellos geht es aber genauso darum, die Marke «Vogue» zu festigen und für die Zukunft zu wappnen. Denn es ist kein Zufall, dass Cerf de Dudzeele in der Vergangenheitsform spricht: Die «Vogue» war einmal Diktatorin. Sie ist es nicht mehr.

Eine Moderevolution um die andere

Der Fokus auf einen Zeitraum vor zwanzig Jahren ist dafür günstig gewählt. Wegen der damaligen Kritik an den ausgemergelten Körpern des Heroin-Chic sah sich damals sogar der amerikanische Präsident Bill Clinton zu einer Aussage gezwungen, aber Edward Enninful kann sie im Nachhinein schlicht als Hysterie abtun, ohne dass er oder seine Kolleginnen sich danach mit den heutigen Schönheitsstandards und der Rolle der Modewelt darin herumschlagen müssten. Das geht einher mit der Tendenz, die tatsächlich immense Wichtigkeit der «Vogue» überall mit einflechten zu wollen.

Dass Enninful in den frühen neunziger Jahren der «Vogue» wirklich mit Ehrfurcht begegnete, wie er in der Serie behauptet, nimmt man ihm nicht ganz ab. Damals war er ein junger Moderedaktor bei der vor Anti-Establishment triefenden Londoner Zeitschrift «i-D». «‹Kommerziell› war ein dreckiges Wort», sagt er über die Zeit, und man würde gerne mehr erfahren.

Doch es gibt noch so viel abzudecken in den sechs Folgen, dass es sofort weitergeht: der Aufstieg von Lee Alexander McQueen, eine Bombendrohung bei einer Prada-Show und natürlich Moderevolution um Moderevolution, «in» um «out» um «in».

Dunkle Sonnenbrillen und ausgefallene Sofas

Immer wieder wird dabei aus der wirklichen Goldgrube der Serie geschöpft: die illustre Auswahl an Personen, die sich für sie vor die Kamera gesetzt hat. Da ist sie, die gute alte Modewelt, irgendwo zwischen «Zoolander» und «The September Issue», mit all ihren Redaktoren und Models und Designerinnen und Prominenten, mit Grace Coddington und Naomi Campbell und Gwyneth Paltrow und Jean Paul Gaultier. Sie tragen ihre dunkelsten Sonnenbrillen und sitzen auf ihren ausgefallensten Sofas. Sie rufen aus, sie gestikulieren, sie sagen «bitch» (Stella McCartney über Karl Lagerfeld) und «boooooring» (Carlyne Cerf de Dudzeele über die ersten Gucci-Shows unter Tom Ford).

Manchmal sind sie demütig. Wie Marc Jacobs, als er zugibt, nicht die richtigen Worte zu finden, sobald die Aids-Krise zur Sprache kommt. Und manchmal sind sie maximal entspannt. Wie Miuccia Prada, wenn sie erklärt, dass sie Glamour nicht als klischierte Idee von Schönheit interpretiert, mit der man sich einen Mann angeln könne, und sich mit einem Lachen im Stuhl zurücklehnt.

Die grosse Frage, die sich nach dem Anschauen der ersten drei Folgen der Serie auftut: Wer rutscht nach, wenn diese Menschen einmal nicht mehr so kameralieb und arbeitsfreudig sind? Und so oft, wie das Gegenteil behauptet wird: Es wird vermutlich nicht die «Vogue» sein, die es uns sagt.

Die ersten drei Folgen von «In Vogue: The 90s» sind ab dem 13. September auf Disney+ zu sehen. Ab 20. September sind die restlichen drei Folgen verfügbar.

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