Sonntag, Januar 12

Warum Länder eine protektionistische oder eine freihändlerische Tradition haben: Das lässt sich anhand eines einfachen Modells erklären. Aber ist das auch zulässig?

Theodor Lessing ist ein längst vergessener Philosoph, aber ein Buchtitel aus dem Jahr 1919 wird bis heute gerne zitiert: «Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen».

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Bereits im Vorwort bekennt Lessing, dass er die Geschichte «weder für Wirklichkeit noch für Wissenschaft» halte, und macht sich über Dutzende Seiten lustig über all diejenigen, die versuchen, irgendwelche Regelmässigkeiten in der Vergangenheit zu identifizieren. «Die Weltgeschichte ist in noch viel höherem Masse als die Geschichte des einzelnen ein undurchdringliches Dickicht von lauter Überrumpelungen!»

Strenggenommen hat Lessing sicher recht. Es ist vermessen, zu behaupten, die Entwicklung der Menschheit habe einen tieferen Sinn. Aber die Behauptung, alles Vergangene sei undurchdringlich, zufällig oder beliebig, geht zu weit. Es gibt durchaus gewisse regelhafte Zusammenhänge.

Der Sinn von Faustregeln

Auch in unserem Alltagsleben benutzen wir ja ständig Faustregeln, die auf vergangenen Erfahrungen beruhen und sich bewährt haben. Wer sich betrunken ans Steuer setzt, muss mit einem Unfall rechnen, nicht immer und überall, aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Ähnlich verhält es sich mit der Interpretation der Vergangenheit. Zumindest in der Wirtschaftsgeschichte gibt es ganz nützliche Faustregeln, die einen Weg durchs Dickicht bahnen.

So lässt sich zum Beispiel mit einem recht einfachen Modell erklären, warum Länder eine protektionistische oder eine freihändlerische Tradition haben. Im Zentrum stehen lediglich zwei Variablen: die Ressourcenausstattung und die Bevölkerungsdichte. Die Vereinigten Staaten gehören zur ersten Gruppe, weil alle Rohstoffe auf ihrem Territorium vorhanden sind und weil die Löhne aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte während der Industrialisierung relativ hoch waren.

USA setzte aus Schutzzölle

Hätten nun die amerikanischen Industriellen auf eine freihändlerische Exportstrategie gesetzt, wären sie mit ihren hohen Personalkosten auf dem Weltmarkt kaum erfolgreich gewesen. Entsprechend schützte das Land seine Industrie im 19. Jahrhundert mit hohen Zöllen, und bis heute ist der Rückgriff auf protektionistische Massnahmen populär, nicht nur bei Trump, sondern auch bei Biden.

Genau das Gegenteil lässt sich in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte beobachten. Die Ausstattung mit Rohstoffen ist gering, und die Bevölkerungsdichte ist traditionell hoch, was bedeutete, dass immer ein grosses Angebot an billigen Arbeitskräften existierte. Entsprechend entwickelte sich bereits in der Alten Eidgenossenschaft eine blühende Heimindustrie, die darauf beruhte, dass arme Bauernfamilien bereit waren, saisonal Baumwolle und Seide für die Kaufleute in der Stadt zu verarbeiten.

Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert war exportorientiert, setzte auf Freihandel und beruhte lange Zeit auf relativ tiefen Löhnen in der Textilindustrie. Erst mit der Umstellung auf die Maschinen- und Chemieindustrie und dem Aufstieg des Dienstleistungssektors im späten 19. Jahrhundert wurde die Schweiz zu einem Hochlohnland.

Die höhere Produktivität erzeugte höhere Margen und ermöglichte dadurch eine Anhebung der Löhne. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Schweiz das wohlhabendste Land auf dem europäischen Kontinent, wenn man das durchschnittliche Einkommen pro Kopf zum Massstab nimmt.

Wieso sich Sklaverei verbreitete

Mit dieser Faustregel lässt sich auch ein Stück weit begründen, warum die unfreie Arbeit in Afrika und den transatlantischen europäischen Kolonien so verbreitet war. Sie geht auf das Modell des Entwicklungsökonomen Evsey Domar zurück. Wenn Arbeitskräfte knapp sind, wie dies in Afrika und in grossen Teilen des amerikanischen Kontinents lange Zeit der Fall war, ist es schwierig, für besonders harte Tätigkeiten freiwillige Arbeitskräfte zu finden.

Die Menschen können jederzeit ausweichen, um in einem abgelegenen Gebiet eine neue Existenz aufzubauen. Also braucht es Zwang, wenn ein afrikanischer Herrscher oder ein europäischer Plantagenbesitzer Menschen für körperlich harte Arbeit rekrutieren will. In Afrika entwickelte sich daraus ein komplexes System von Abhängigkeiten, das von temporärer Zwangsarbeit bis zur Sklaverei reichte. Auf den europäischen Plantagen dominierte die permanente Sklaverei.

Würde er noch leben, würde Lessing solche Überlegungen bestimmt als groben Unfug bezeichnen. Allerdings fällt sein Vorwurf auf ihn zurück. Wenn das Nachdenken über die Vergangenheit als «Sinngebung des Sinnlosen» bezeichnet wird, dann ist vermutlich auch die Erkenntnistheorie nichts Weiteres als der verzweifelte Versuch, Ordnung in die Welt zu bringen. Die alten Griechen haben das Dilemma wie gewohnt besonders gut auf den Punkt gebracht: «Der Kreter Epimenides sagte: Alle Kreter sind Lügner.»

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