Montag, Oktober 7

Die Gruppe, die Esoterik und Psychotherapie vereint, bietet Behandlungen für ADHS-Patienten und Autisten an. Das sei gefährlich, finden Kritiker.

Sie wolle eine bessere Welt schaffen, in der man «glücklicher, freier und liebender leben» könne, schreibt die Kirschblüten-Gemeinschaft über sich selbst. «Eine freie Energie zu sein, ist dabei unser ultimatives, vielleicht utopisches Anliegen.» Die Kirschblütler präsentieren sich als in Pastelltönen gekleidete Hippies, die die Kraft von Sex und Drogen nutzen möchten, um psychisch kranke Menschen zu heilen.

Ihre Gegner sehen die Esoterikergruppe, die ihr Zentrum im Dorf Lüsslingen nahe bei Solothurn hat und in der viele Psychiater und Psychologinnen aktiv sind, weniger positiv: Sie bezeichnen sie als sektenhaft und gefährlich. Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) erkennt in der Kirschblüten-Gemeinschaft einen «totalitären Anspruch».

Die Kritiker werfen der Solothurner Regierung schon seit Jahren vor, die Gefahr zu verharmlosen, die von den Kirschblütlern ausgehe. Und sie fühlen sich darin nun durch eine Stellungnahme der Exekutive bestätigt. Es geht um die Antwort auf eine kleine Anfrage des grünen Kantonsrats Christof Schauwecker. Er ist besorgt über die Aktivitäten der Kirschblütler in einer neuen Praxis.

Viel Kirschblüten-Prominenz

Das Zentrum Prisma «für Neurodiversität und Lebenskunst» in Zuchwil bietet Beratungen, diagnostische Abklärungen, Coachings und Psychotherapien für «neurodiverse» Menschen an, also insbesondere ADHS- und Autismus-Betroffene. Bis jetzt arbeiten dort ausschliesslich Personen aus dem inneren Zirkel der Kirschblütler – unter ihnen die Tochter des verstorbenen Gründers der Gemeinschaft, Samuel Widmer, sowie zwei von dessen früheren Lebensgefährtinnen.

Schauwecker wollte deshalb von der Regierung wissen, ob sie das Prisma-Zentrum auf dem Radar habe, ob sie dieses Angebot überprüft und zugelassen habe, ob der Kanton die Praxis in irgendeiner Form unterstütze. Und ganz grundsätzlich: was die Regierung unternehme, um die Bevölkerung, insbesondere vulnerable Bevölkerungsgruppen, vor den Aktivitäten von Sekten und sektenähnlichen Gruppierungen zu schützen. Zu den «vulnerablen» Personen zählt Schauwecker auch psychisch Kranke.

Aus der trocken formulierten Antwort lässt sich herauslesen, dass die Regierung und insbesondere Susanne Schaffner, die Vorsteherin des Departementes des Innern, die Kirschblüten-Gemeinschaft und deren Aktivitäten im Bereich ADHS und Autismus für harmlos halten.

Das Gesundheitsamt habe aufgrund der kleinen Anfrage Kenntnis von der Existenz des Prisma-Zentrums, schreibt die Regierung. Das Amt habe überprüft, ob bei den Prisma-Leuten alle erforderlichen Bewilligungen vorlägen. Das sei der Fall. Das Zentrum bekomme weder finanziell noch in anderer Weise kantonale Unterstützung. In der Antwort auf die – von Schauwecker unspezifisch verfasste – Frage zu den Sekten geht die Regierung gar nicht auf die Kirschblüten-Gemeinschaft ein.

Enttäuscht von der Antwort

In einer eigenen Stellungnahme zeigt sich Schauwecker enttäuscht über die Ausführungen der Regierung: Der Kanton ziehe sich aus der Pflicht, schreibt er. Und stellt infrage, ob die Bedingung, dass eine medizinisch tätige Person «vertrauenswürdig» sein und physisch und psychisch Gewähr für eine einwandfreie Berufsausübung bieten müsse, bei den Prisma-Leuten gegeben sei.

Denn die Kirschblüten-Therapeuten würden sexuelle Beziehungen zu Klientinnen und Klienten nicht ausschliessen und die Verwendung von illegalen Substanzen propagieren. Deshalb müsse der Kanton die Prisma-Leute, die eine potenzielle Gefahr darstellten, einzeln prüfen.

Schauwecker schreibt, durch das «lasche bzw. nicht vorhandene Bewilligungsverfahren» könne eine indirekte Unterstützung durch den Kanton ausgemacht werden. Seriöse Beratungsstellen im Bereich ADHS/Autismus mit teilweise monatelangen Wartezeiten seien im Nachteil gegenüber dem Prisma-Zentrum, das keine grossen Wartelisten habe. «Patientinnen und Patienten müssen sich darauf verlassen können, nur seriöse Angebote vorzufinden», findet der grüne Politiker.

Ein «geschlossenes System»

Auch die Schweizerische Fachgesellschaft ADHS sieht die Aktivitäten der Kirschblütler in ihrer neuen ADHS- und Autismus-Praxis «angesichts der Vorgeschichte kritisch», wie die Geschäftsleiterin Susanne Kempf sagt. Sie bestreitet nicht, dass die Fachpersonen die nötigen Dokumente zur Berufsausübung haben. Es bestehe jedoch die Gefahr, dass sie «in einem geschlossenen System» handelten: Die in der Kirschblüten-Gemeinschaft erworbenen Grundüberzeugungen könnten in die Behandlung einfliessen.

Kempf sagt, die Politik müsse sich dieser Umstände bewusst sein. «Wir sehen die Solothurner Regierung und die Berufsverbände in der Pflicht, die Aufsicht wahrzunehmen.» In diesem Zusammenhang sei es «erstaunlich», dass das Gesundheitsamt erst durch Schauweckers Anfrage überhaupt von der Existenz des Prisma-Zentrums erfahren habe.

Die Prisma-Leute gehen mit einer Stellungnahme auf ihrer Website auf die Kritik ein: Ein Engagement in der Kirschblüten-Gemeinschaft sei Teil ihres Privatlebens, das sie klar von der professionellen Rolle trenne. Die Gemeinschaft sei nichts Schlimmes. «Die negativen Vorstellungen in der Öffentlichkeit entsprechen nicht der Wahrheit und beruhen auf den Aussagen einiger weniger Menschen, die fast alle nie bereit waren, in einen persönlichen Austausch mit den Menschen zu treten, über die sie ihre Meinung erzählen.»

Das Prisma-Team sei sehr offen für andere Fachpersonen, es gebe bereits erste Kontakte in diese Richtung. «Dass jedoch jede Person, welche mit uns zusammenarbeitet, befürchten muss, in die mediale Berichterstattung mit hineingezogen zu werden, erschwert diese Möglichkeit.»

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