Wie sicher lebt es sich in Charkiw, das wieder unter schwerem russischem Beschuss steht? Das muss jeder, der ausgeharrt hat, für sich selber entscheiden, doch die Einschläge kommen näher.

Die russische Offensive geht weiter. Heute wurde ein Dorf eingenommen, gestern waren es gleich mehrere. Die amerikanische Hilfe, bei der versprochen wurde, «in wenigen Stunden» da zu sein, ist noch nicht eingetroffen, und wenn sie doch eingetroffen ist, hat sie wenig bewirkt.

Ich erinnere mich, wie uns gesagt wurde, dass nach der Kapitulation von Awdijiwka nichts Ernstes passieren werde, weil dahinter zuverlässige Verteidigungsanlagen errichtet worden seien. Das Bollwerk Awdijiwka wurde am 17. Februar aufgegeben, und seither sind die Russen in diesem Bereich weitere 20 Kilometer vorgerückt, durchschnittlich 8 Kilometer pro Monat oder 250 Meter pro Tag. Sie haben Otscheretine eingenommen, und ihr nächstes ernsthaftes Ziel ist wahrscheinlich Pokrowsk, das noch 30 Kilometer entfernt ist.

Ist das viel oder wenig? Die Russen denken in Quadratkilometern, in Mengen an Munition, Ausrüstung, Treib- und Schmierstoffen, Blut für Transfusionen, und sie glauben, dass dies die wichtigsten Dinge im Krieg sind. Auf diese Weise können sie Tausende von Menschen in den Tod schicken, ohne sich um ihr Schicksal zu scheren. Das aber ist noch nicht alles. Viel wichtiger ist, was auf den 250 Metern ukrainischen Territoriums geschieht, das die Russen jeden Tag neu erobern.

Was 250 Meter bedeuten

Eine 98-jährige Frau musste aus Otscheretine, einer von den Russen eroberten Stadt, fliehen. Sie ging 10 Kilometer zu Fuss, ganz allein, gestützt auf einen Stock und ein langes Stück Brett, fiel unterwegs mehrmals ins Gras, wo sie sich ausruhte. Dann fand das ukrainische Militär sie und nahm sie in einem Fahrzeug mit. Als die unglückliche alte Frau aus dem Auto stieg, wurde klar, wie ausgezehrt sie war. Es war erstaunlich, dass sie überhaupt noch auf den Beinen stehen konnte.

Die alte Frau sagt, sie habe den Zweiten Weltkrieg erlebt. Sie erzählt, dass der Krieg nicht so gewesen sei wie der von heute. Damals brannten keine Häuser, doch jetzt schon, und es werden Bäume entwurzelt.

«Haben Sie Hunger?», fragt man sie.

«Was glaubt ihr denn? Oh, Gott», antwortet die alte Frau.

Ebendies bedeuten die besagten 250 Meter: Häuser werden abgefackelt, Bäume werden getötet, und 98-jährige Frauen nehmen ein Stück Brett in die Hand und machen sich auf ins Nichts, weil es unmöglich ist, zu bleiben.

Alle alten Menschen, mit denen ich in den letzten zwei Jahren sprechen konnte, sagen, dass dieser Krieg für sie schlimmer sei als der Zweite Weltkrieg. Und eine solche Einschätzung ist nur natürlich. Denn wenn das Endziel des Faschismus ein Planet war, der sich einer einzigen Nation unterwirft, so scheint das Ideal des «Raschismus» ein Planet zu sein, der sich in ein Ödland verwandelt hat und dicht mit Grabkreuzen übersät ist. Offenbar werden sie nach diesem Krieg nicht mehr auf der Erde leben.

Vorgestern, am Tag vor Ostern, beschlossen meine Frau und meine Tochter, mit dem Fahrrad zu einem der Lieblingsplätze der Charkiwer Bürger zu fahren, dem Sarzhin Jar. Das Wetter war kalt, und auf dem Weg wehte ein starker Wind, so dass nicht viele Leute unterwegs waren. Dann gab es eine Explosion, und eine riesige Rauchsäule stieg in den Himmel. Dies aber geschah weit weg, und die beiden fuhren weiter.

Dann kam die Osternacht, in der Charkiw von russischen Drohnen angegriffen wurde: Die Explosionen beschädigten 50 Privathäuser und 30 Wohngebäude. Und dann war da noch der 5. Mai, der Osterfeiertag.

Die Russen haben die Stadt noch nie an Ostern angegriffen, weder 2022 noch 2023, weil sie offenbar den Zorn Gottes fürchteten und nicht als Satanisten gelten wollten. Doch diesmal warfen sie Bomben auf Charkiw.

Diese fielen genau dort, wo meine Frau und meine Tochter am Vortag mit ihren Fahrrädern unterwegs gewesen waren: in der Nähe von Sarzhin Jar. Erneut wurden viele Häuser zerstört, und die Gegend glich an manchen Stellen eher dem verheerten Aleppo als einem Charkiwer Wohnviertel: Die Häuser hatten sich in Schutthaufen verwandelt, und die Rettungskräfte mussten sich durchgraben, um in die darunterliegenden, nicht völlig zerstörten Räume zu gelangen.

Eine der Bomben zerstörte das Haus des Rektors der Nationalen Universität Karasin-Charkiw. Es ist unwahrscheinlich, dass die Russen gerade dieses Haus treffen wollten. Eher wollten sie Sarzhin Jar treffen, den Ort, an dem sich die Bürger von Charkiw so gerne entspannen. Der Tag war windstill, sonnig und warm, ideal für Spaziergänge im Freien. Ausserdem waren Osterferien. Es tummelten sich viele Menschen in Sarzhin Jar. Glücklicherweise verfehlten die Russen ihr Ziel, und die Bomben detonierten hundert Meter weit entfernt.

Am selben Tag, am hellen Osterfeiertag, warfen die Russen zum ersten Mal eine riesige 1500-Kilogramm-Luftbombe auf ein Dorf in der Region Charkiw, Monatschinowka. Dort machte die Bombe eine ganze Strasse dem Erdboden gleich.

Bomben über dem Kopf

Die Russen drohen damit, auch Charkiw mit solchen Bomben anzugreifen, aber bis jetzt handelt es sich nur um Drohungen. Bis anhin sind es vor allem 250-Kilogramm-Bomben, ballistische Raketen und mit Sprengstoff gefüllte Drohnen, welche die Menschen in Charkiw umbringen. Die meisten von uns, mich eingeschlossen, haben alle drei gesehen, gehört und erlebt.

Wem eine Bombe über den Kopf fliegt, der hört ein lautes Brummen, das den Himmel erfüllt (moderne Bomben fallen nicht herunter, sondern fliegen fast waagerecht). Das Geräusch folgt der Bombe hintennach, aber wenn man an der richtigen Stelle vor der Quelle des Geräuschs schaut, erblickt man das Geschoss. Die Bombe braucht einige Sekunden, um den Himmel über meinem Kopf zu überqueren, und diese Zeit reicht aus, um sich auf den Boden fallen zu lassen und den Kopf mit den Händen zu bedecken.

Wenn eine ballistische Rakete über mich hinwegfliegt, ist sie zu schnell, um gesehen zu werden. Sie fliegt um ein Vielfaches schneller als der Schall, so dass ich zuerst die Explosion höre, sodann bebt der Boden unter meinen Füssen, und erst danach erreicht mich das Dröhnen der Rakete. Es hat keinen Sinn mehr, mich niederzuwerfen und den Kopf zu schützen, also renne ich los und verstecke mich in einem nahen Gebäude. Doch dann bemerke ich, dass auch das sinnlos ist, denn die Rakete ist bereits explodiert. Aber das Dröhnen ist schlicht zu laut und zu beängstigend, als dass man noch logisch denken könnte.

Wenn eine mit Sprengstoff gefüllte Drohne über mich hinwegfliegt, sehe ich sie nicht, denn Drohnen fliegen nur in der Nacht. Man hört ihr mechanisches Kreischen und dann das Geräusch der Explosion, wenn sie niedergeht. Drohnen kommen oft in Schwärmen daher, so dass es zu mehreren Detonationen kommen kann.

Es kursieren drei Haupttheorien, warum die Russen dies alles tun. Die erste besagt, dass es sich um eine Rache für unsere Angriffe auf russische Ölraffinerien und den Beschuss von Belgorod handle. Die zweite, dass sie einfach ein pragmatisches, durch ihr allgemeines Konzept der Kriegsführung diktiertes Verhalten an den Tag legten, zu dem grundlegend Terror und Völkermord gehörten. So sieht die moderne Kriegsführung der Russen aus, und so haben sie immer schon gekämpft, in Afghanistan, Georgien und Syrien. Es wäre seltsam, wenn sie jetzt anders vorgehen würden.

Gemäss der dritten Theorie handelt es sich um die Vorbereitung einer neuen Offensive auf Charkiw, und diese besteht darin, die gesamte Energie- und die zivile und militärische Infrastruktur sowie alle Industriebetriebe zu zerstören und die Einwohner zu zwingen, die Stadt zu verlassen.

Die meisten Experten denken, dass Russland nicht in der Lage sein wird, Charkiw einzunehmen, da es dazu weitaus grössere Kräfte benötigt, als zur Verfügung stehen. Dazu kursieren verschiedene Zahlen. Manche sagen, Russland müsse weitere 80 000 Soldaten auftreiben, andere bestehen darauf, dass zusätzliche 100 000 oder 200 000 Mann benötigt würden. Ich selber glaube, dass es sogar noch mehr braucht, um Charkiw unter Kontrolle zu bringen.

Das Leben geht weiter

Als die Rote Armee 1942 erfolglos versuchte, Charkiw von der deutschen Wehrmacht zurückzuerobern, beliefen sich die letalen Verluste auf etwa 300 000 Mann. Als es ihr 1943 gelang, Charkiw einzunehmen, belief sich die Gesamtzahl der getöteten und verwundeten sowjetischen Soldaten wahrscheinlich auf mehr als 400 000 (wobei verschiedene Quellen unterschiedliche Zahlen angeben).

Ich denke, dass der russischen Führung Menschenleben damals genauso wenig wert waren wie heute, so dass die Verluste etwa gleich hoch wären. Putin verfügt nicht über so viele Soldaten wie Stalin. Trotzdem könnten die Russen versuchen, Charkiw zu erobern. Da wir wissen, wie sie dabei vorgehen, können wir schon jetzt festhalten, dass von Charkiw in diesem Fall nichts mehr übrig bleiben würde. Vielleicht haben sie damit ja schon angefangen.

Vielleicht werde ich durch eine Bombe oder eine Rakete getötet, denkt sich ein gewöhnlicher Einwohner von Charkiw. Vielleicht fällt mir auch ein Ziegel auf den Kopf, oder ich werde von einem Auto überfahren. Aber bis das passiert, werde ich leben und das Leben geniessen.

Eine Frau, die in Zmiew, unweit von Charkiw, lebt, erzählte mir, dass ihr Haus fast eine Woche lang keinen Strom und kein Wasser hatte, aber sie verfügte über zwei Fässer Wasser, das sie im Voraus gesammelt hatte, und einen ganzen Schuppen mit Brennholz.

«Die Sonne scheint, und wir haben einen weiteren Tag überstanden, also ist alles in Ordnung», sagt sie.

Niemand hat Angst, nicht einmal kleine Kinder. Sie tummeln sich auf dem Spielplatz, als sie eine Explosion hören. «Juhu!», schreit eines von ihnen. Der Bub ist zu jung, um ein Fan von Putin und seiner russischen Welt zu sein. Er versteht noch nicht, was vor sich geht. Aber fürchten, nein, fürchten tut er sich nicht.

Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die mit neuer Heftigkeit mit schweren Bomben von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.

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