Donnerstag, Mai 8

Eine Geschichte über Lehrpläne, Lehrermangel und die Frage nach den Prioritäten der Stadt Bern.

In ihrem Selbstverständnis ist die Stadt Bern progressiv. Sie reisst Projekte an, die Vorbildcharakter haben und ausstrahlen sollen. So hat sie sich das auch bei den «Classes bilingues de la Ville de Berne» vorgestellt. 2019 führte die Stadt dieses zweisprachige Unterrichtsangebot ein. Schülerinnen und Schüler sollen vom Kindergarten bis zum Ende der Primarschule im Berner Mattequartier je zur Hälfte auf Deutsch und Französisch unterrichtet werden.

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Das Angebot wurde schrittweise aufgebaut und sollte die Brückenfunktion Berns zwischen der Deutschschweiz und der Romandie unterstreichen, wie die Stadt schreibt. Doch nur sechs Jahre nach der Einführung ist die Versuchsanordnung mit der Zweisprachigkeit gescheitert. Am Dienstag gab die Berner Bildungsdirektion bekannt, dass sie das Projekt im Sommer 2026 auslaufen lasse – aus fachlichen, organisatorischen und finanziellen Gründen, wie es offiziell heisst.

Betroffen sind 91 Schülerinnen und Schüler sowie 24 Mitarbeiter. Die grüne Bildungsdirektorin Ursina Anderegg beerdigt damit ein Herzensprojekt ihrer Vorgängerin, der ehemaligen grünen Bildungsdirektorin Franziska Teuscher.

«Faktor für den Zusammenhalt unseres Landes»

Der Entscheid wird in Bern heftig kritisiert. Der Verein Bern Bilingue spricht von einem «bildungspolitischen Skandal». Die Berner FDP-Grossrätin Claudine Esseiva ist Präsidentin des Vereins «Bern Bilingue» und Mutter eines betroffenen Schülers. Sie beklagt, dass die linke Stadtregierung gerade bei diesem Projekt sparen wolle. «Als Bundesstadt sollte sich Bern eigentlich speziell für die Zweisprachigkeit einsetzen, denn sie ist ein wichtiger Faktor für den Zusammenhalt unseres Landes.»

Der Entscheid sei überraschend gekommen, sagt Esseiva. Ende Oktober fand für die Eltern der Schüler in den oberen Klassen eine Informationsveranstaltung statt. Daran nahm auch der Leiter des Bildungsamtes, Daniel Hofmann, teil. Esseiva sagt: «An diesem Abend hat niemand davon gesprochen, dass das Projekt beendet wird. Vielmehr ging es darum, ob das Projekt ausgeweitet werden kann.»

Hofmann bestätigt, dass an dieser Veranstaltung das Ende der zweisprachigen Klassen nicht zur Sprache kam. «Weil nicht alle Eltern anwesend waren, wäre es auch gar nicht der angemessene Rahmen gewesen.» Laut Hofmann wurde das Projekt damals allerdings geprüft. Die Bildungsdirektion kündigte an, im Mai über die Zukunft des Projekts zu informieren.

Esseiva hat darauf ihre Hilfe angeboten und sich direkt an die Bildungsdirektion gewandt. Die FDP-Grossrätin verweist auf Anfrage auf ein ähnliches Projekt in Biel, das seit 15 Jahren laufe und womöglich nützliche Hinweise hätte liefern können. Wie das «Bieler Tagblatt» berichtete, hat die Berner Bildungsdirektorin Anderegg bei ihrer Bieler Amtskollegin allerdings keine Auskünfte eingeholt.

Laut Hofmann sind die Projekte in Biel und Bern «nur bedingt vergleichbar». Biel sei offiziell eine zweisprachige Stadt und verfolge ein anderes Konzept. Es gebe dort mehr zweisprachige Schulklassen. Auch Biel müsse sich mit den Unterschieden in den beiden Lehrplänen auseinandersetzen.

Im Gegensatz zu Bern tut Biel dies – offenbar – mit Erfolg.

Sparmassnahme – oder fehlender Wille?

Um die Schüler zu gleichen Teilen in den Fächern Französisch und Deutsch zu unterrichten, mussten Lektionen in Fächern wie Musik und Gestalten gestrichen werden. «Eine Schule kann von diesen Kompensationen allerdings nur innerhalb eines Versuchs vornehmen, normalerweise sind Abweichungen nicht zulässig.» Neben der Schwierigkeit, Lehrpersonen anzuwerben, kommt laut der Stadt ein weiteres Problem hinzu: Der Stadt fehlen geeignete Räume für die steigende Zahl der Schüler. Insgesamt gibt es 611 Schulklassen in Bern. Zweisprachig sind nur 4.

Er könne die Enttäuschung der betroffenen Eltern und Schüler verstehen, sagt Hofmann. Doch die «Classes bilingues» seien ein Zusatzangebot und gehörten nicht zum gesetzlichen Auftrag der Volksschule. «Wir müssen zwischen Grundauftrag und Zusatzangebot abwägen.» Laut der Stadt kostet dieses «Zusatzangebot» jedes Jahr bis zu einer Million Franken.

Zweisprachige Klassen würden zwar mehr Absprachen und mehr Personal benötigen, sagte Anna Tanner, SP-Bildungsdirektorin der Stadt Biel, im «Bieler Tagblatt». Allerdings sagt sie weiter: «Letztlich ist es eine Frage des Willens, und wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.»

Zurzeit werden in den zweisprachigen Klassen in Bern 77 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Im Herbst kommen 14 Kindergärtner hinzu. Für die Betreuung sind 10 Lehrpersonen und 14 Mitarbeiter in der Tagesbetreuung zuständig. Letzteren garantiert die Stadt eine Folgeanstellung, den Lehrpersonen wird sie per Ende Juli 2026 kündigen.

Den Lehrpersonen will die Stadt Unterstützung anbieten, wie es in einer Mitteilung heisst. Angesichts des Fachkräftemangels im Bildungsbereich und der frühzeitigen Kommunikation sei eine lückenlose neue Anstellung für diese Lehrpersonen sehr wahrscheinlich, schreibt die Stadt.

Normalerweise ist die Berner Stadtregierung– trotz finanziellen Problemen – sehr freigiebig, wenn es darum geht, Steuergeld für ihre Projekte auszugeben. So rechnet sie für das laufende Jahr mit einem Defizit von 28 Millionen Franken. Im entsprechenden Budget sind zudem weitere 80 Millionen Franken für Investitionen vorgesehen.

Der Entscheid der Berner Bildungsdirektion hat inzwischen bis in die Partei von Direktorin Anderegg negative Reaktionen ausgelöst. Es dürften weitere folgen: Am Montag nimmt Anderegg an einer Informationsveranstaltung mit den Eltern der betroffenen Schüler teil.

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