Mittwoch, März 19

Seit zwei Jahren lässt der Gouverneur von Texas Migranten nach New York transportieren. Die Metropole hat grosse Mühe, sie unterzubringen. Neben Lateinamerikanern wandern auch Afrikaner illegal von Mexiko in die USA ein und landen in Manhattan.

Betritt man den Tompkins Square Park im New Yorker Stadtteil East Village von Süden her, wähnt man sich plötzlich in Westafrika. Weisse gibt es hier kaum, und Englisch hört man nur selten. Dafür wird Französisch gesprochen, das senegalesische Wolof oder das guineische Malinké. Der Park ist der Treffpunkt der afrikanischen Migranten. Das ist kein Zufall. Gleich nebenan liegt die St. Brigid School. Hier müssen sich Asylsuchende melden, wenn ihre Zeit in der Notunterkunft abgelaufen ist. Einzelpersonen können normalerweise einen Monat in einem Aufnahmezentrum bleiben und dann um eine Verlängerung ersuchen. Sie erhalten eine Nummer, und dann warten sie im Park, bis sie an der Reihe sind. Aber viele kommen auch einfach so hierher, um Landsleute zu treffen, Informationen auszutauschen oder zu plaudern.

65 000 Migranten leben in Notunterkünften

Da ist zum Beispiel Diallo Mukhtar. Er stammt aus Guinea, einem bitterarmen Land in Westafrika, das seit dem Militärputsch von 2021 von Willkür regiert wird. Mukhtar trägt eine Jacke mit der Freiheitsstatue und spricht gerade mit einem Landsmann über Englischunterricht. Sein Problem ist, dass die Schule, wo er einen kostenlosen Kurs belegen könnte, weit entfernt ist und er kein Geld für die U-Bahn hat. Sein Kollege sagt ihm, dass viele schwarz fahren, indem sie einfach über das Drehkreuz bei den Subway-Stationen springen, aber Mukhtar möchte kein Risiko eingehen.

Rund 10 Millionen Migranten wurden seit Oktober 2020 beim Versuch, die Grenze zu den USA illegal zu überqueren, von den Behörden angehalten, wobei die Zahl nach Bidens Amtsantritt stark anstieg (siehe Grafik). Im Jahr 2022 gab es 2,2 Millionen illegale Grenzübertritte von Mexiko in die USA, so viele wie nie zuvor. Die Einwanderung aus Afrika ist ein neueres Phänomen, aber der grösste Teil der Migranten stammt nach wie vor aus Lateinamerika. Allein aus dem krisengeschüttelten Venezuela, wo 29 Millionen Einwohner unter der Fuchtel von Präsident Maduro leben, sind im letzten Jahr 7 Millionen geflohen.

Die illegalen Grenzübertritte haben unter Biden stark zugenommen

Zahl der monatlichen Aufgriffe an der Südgrenze der USA

1

20. 1. 2017: Donald Trump wird Präsident.

2

20. 3. 2020: Die Pandemieregelung «Title 42» tritt in Kraft.

3

20. 1. 2021: Joe Biden übernimmt die Präsidentschaft.

4

11. 5. 2023: «Title 42» läuft aus, stattdessen beginnt Bidens Grenzregime.

Seit dem Frühling 2022 spüren nicht nur die Grenzstaaten in den USA die Zunahme. Denn damals begann Texas damit, Neueinwanderer in demokratisch regierte Grossstädte wie New York oder Chicago zu transportieren. Seither durchliefen 180 000 Asylsuchende, aber auch papierlose Migranten die städtischen Notunterkünfte in New York. Gegenwärtig beherbergt die Stadt 65 000 Einwanderer in sogenannten «shelters», also Durchgangszentren. Die Versorgung der Einwanderer hat die Stadt laut der «New York Times» in den vergangenen drei Jahren über 10 Milliarden Dollar gekostet.

New York sieht sich, wie andere Grossstädte in den USA, als sicheren Hafen («sanctuary city») für papierlose Migranten. Das heisst, dass sich diese beispielsweise in einer Notlage an die Polizei wenden können, ohne befürchten zu müssen, wegen ihres illegalen Status ausgeschafft zu werden. Die Regelung geriet immer wieder unter Beschuss und wurde auch nicht immer eingehalten. Bürgermeister Eric Adams würde sie angesichts der Migrationskrise gerne aufheben, ist bis jetzt jedoch am Stadtrat gescheitert.

Beim ebenso umstrittenen «Right to Shelter»-Gesetz ist es ihm gelungen. Es bestimmte bisher, dass die Stadt jedem Obdachlosen ein Bett zur Verfügung stellen muss. Aber angesichts des Engpasses bei der Unterbringung wurde das Gesetz im März auf Initiative von Adams revidiert. Nun haben Einwanderer ohne Familie das Recht, 30 Tage in einer Unterkunft zu bleiben, Familien 60 Tage.

Komplizierte Reise aus Guinea über Istanbul nach Südamerika

Der Guineer Mukhtar ist über die Türkei und Nicaragua in die USA gekommen. Das ist eine Route, die inzwischen viele Afrikaner wählen, weil sie, obwohl sie viel länger ist, weniger gefährlich ist als die Route durch die Sahara und übers Meer. In seinem Fall dauerte die Reise etwa vier Wochen. Warum ausgerechnet die Türkei? Er erklärt, dass man für den Transit in Istanbul kein Visum brauche und relativ einfach in Nicaragua einreisen könne. Von dort geht es dann, meist auf dem Landweg, nach Mexiko. Das sei die gefährlichste Etappe, sagt er. In Mexiko-Stadt wurde ihm das ganze Geld gestohlen, das ihm noch geblieben war. Aber er schaffte es, die Grenze zu den USA zu passieren, und stellte dort einen Asylantrag. «Es kann Jahre bis zu einer Entscheidung dauern», sagt er, «aber eine Arbeitserlaubnis bekommt man meist schon vorher.»

Er hatte amerikanischen Boden in Arizona betreten, wo er drei Wochen in einem Empfangszentrum blieb und bei der Befragung begründete Angst vor Verfolgung glaubhaft machen konnte, womit er die Möglichkeit bekam, ein Asylgesuch zu stellen. Dann wurde er mit einem Bus nach New York verbracht. Nun wohnt er in einer Notunterkunft und versucht, seine Papiere in Ordnung zu bringen.

Die Zeltstadt auf Randall’s Island

Eine der grössten Unterkünfte für Migranten liegt auf Randall’s Island. Das ist eine Insel zwischen Harlem River und East River in Manhattan. Die riesigen Zelte dort beherbergen über 3000 Einwanderer.

Im Herbst und Winter sorgte das Gelände für Aufsehen, weil sich dort ein Freiluftmarkt ausbreitete. Migranten verkauften selbstgekochtes Essen und Getränke, andere boten Süssigkeiten, Zigaretten und Secondhand-Kleider an, sogar Tattoos konnte man sich stechen lassen. Andere Asylsuchende gehörten ebenso zur Kundschaft wie Besucher des Parks. Wegen einer Petition der Anwohner wurden die Stände inzwischen grösstenteils abgeräumt. Beim Eingang zu einem der Zelte findet sich noch ein letztes Überbleibsel: Ein venezolanischer Coiffeur bietet seine Dienste an. Neben dem Stuhl steht ein Tischchen mit Schere, Trimmer, Rasiermesser, Kamm und Bürste. Der Inhaber des «Salons» ist Kenny Javier Conde Amaya. Im Kinderwagen liegt sein Sohn. Er erzählt, dass er den Grenzfluss Rio Grande zusammen mit seiner Frau durchquert habe, die damals schwanger gewesen sei. Das war vor fünf Monaten. Inzwischen sei das Baby hier in New York zur Welt gekommen, sagt Amaya. «Es ist amerikanischer Bürger.»

Der 26-Jährige hat in Venezuela als Barbier gearbeitet. Er sagt, sein Herz sei immer noch in seiner Heimat und dass er gerne dereinst in sein Land zurückkehren würde. Aber zuerst müsse Präsident Maduro weg, und dann sei es auch möglich, dass es nach seinem Sturz erst einmal noch schlimmer werde. Im Moment brauche er vor allem einen Job, und dann hoffe er auf eine gute Ausbildung für seine Kinder.

Der Mann der Venezolanerin wollte sie umbringen

Neben ihm stehen sein jüngerer Bruder Gabriel und ein Freund namens Alberto Gonzalez. Der trägt eine elektronische Fussfessel, die sie scherzhaft «Wi-Fi» nennen. «Nachdem wir politisches Asyl beantragt hatten, mussten wir fünf Monate in einem Auffanglager bleiben», sagt Kenny Javier Conde Amaya. «Dann wurde Albertos Antrag abgelehnt. Weil er immer noch Rekurs einlegen kann, wurde er nicht ausgeschafft, muss aber sein Wi-Fi tragen, damit er nicht untertaucht.» Er und seine Familie hingegen, deren Gesuch noch hängig sei, müssten bloss alle drei Stunden ein Handybild an die ICE, also die Einwanderungs- und Zollbehörde, schicken, damit man sie lokalisieren könne.

Nicht weit von den Brüdern bauen zwei Frauen einen Stand auf mit Getränken und Arepas, also gefüllten Maisfladen. Die beiden kommen ebenfalls aus Venezuela. Die Snacks, die sie verkaufen, bereiten sie in einer gemieteten Küche zu. Dort arbeiten sie sieben Tage pro Woche und verdienen so etwa 50 Dollar pro Tag. Ihren Namen wollen sie nicht nennen und auch nicht fotografiert werden. «Die Venezolaner haben einen schlechten Ruf», sagen sie zur Begründung. «Wir wollen nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden.»

Die beiden sind ein Paar. Als sich die eine von ihnen in Venezuela von ihrem Mann trennte, gab es schwere Probleme. Er verunmöglichte ihr, die Kinder zu sehen. Am Ende drohte er sogar damit, sie umzubringen. Also floh sie mit ihrer Partnerin nach Chile, wo sie ein Jahr verbrachten. Dann nahmen sie den Bus nach Kolumbien und schlugen sich von dort durch den Darién-Dschungel nach Panama durch. Das berüchtigte Grenzgebiet ist unbewohnt, wird aber von Drogenkartellen und Kriminellen kontrolliert. Die strapaziöse und gefährliche Durchquerung, die nur zu Fuss möglich ist, dauert mehrere Tage. Überall lauern Vergewaltigung, Gewalt und Tod. Vor einem halben Jahr kam sie schliesslich mit ihrer Partnerin in den USA an. Sie hofft, dass sie eines Tages auch ihre Kinder hierherholen kann.

Im Park auf Randall’s Island, wo die Bewohner der benachbarten Viertel joggen gehen, sammelt Barry Plastikflaschen und Getränkedosen ein. Am Abend bringt der Guineer die riesigen Säcke an eine nahe Kreuzung, wo der Lastwagen einer Recyclingfirma wartet. Auf einem kleinen Rasenstück warten etwa zwanzig andere Migranten aus der Zeltunterkunft, vor allem Afrikaner, auf die Abnehmer. «Für zwanzig Einheiten bekomme ich einen Dollar», sagt er. «Ich arbeite von morgens bis abends. An einem guten Tag sammle ich 400 Flaschen ein, auch aus den Abfalleimern. Dann komme ich auf zwanzig Dollar.» Als alles abgeladen ist und er die Noten eingesteckt hat, sagt er: «So, jetzt ziehe ich mich in meine Residenz zurück.»

Ein Luxushotel als Notunterkunft

Viele Migranten sind in ehemaligen Hotels untergebracht. Das legendäre «Roosevelt», ein Gebäude mit über tausend Zimmern, liegt an bester Manhattan-Lage bei der Grand Central Station. Während der Corona-Pandemie ging es bankrott. «Etwa 3500 Personen wohnen gegenwärtig im Gebäude», sagt John, der schon früher als Page im Hotel arbeitete und nun als «Troubleshooter» angestellt ist. «Aber es gibt kaum Troubles», sagt er. Etwa drei Viertel der Familien seien Südamerikaner, ein Viertel Afrikaner. Die meisten seien sehr nett. Gestresst seien sie bloss nach Ablauf der Frist, wenn sie nicht wüssten, ob sie auf der Strasse landeten. «Aber da die Kinder oft hier in der Nähe zur Schule gehen, erhält die Familie meist eine Verlängerung.»

«Mit den Touristen damals gab es mehr Probleme», sagt er. Er trägt immer noch die Hoteluniform von früher mit dem «Roosevelt»-Logo.

Auf seinem Handy zeigt er Fotos aus der Zeit, als das Hotel noch in Betrieb war: die Lobby mit Weihnachtsbaum, chic gekleidete Gäste, ein grosser Speisesaal. «Natürlich gibt es Leute, die die Nase rümpfen, dass nun Flüchtlinge hier wohnen», sagt er. «Aber ist doch besser, als wenn es leer steht, oder? Die Zeiten ändern sich.» Es bestünden gute Chancen, dass es irgendwann wieder eröffne.

In diesem Moment geht Gabriel Amaya vorbei, der Bruder des venezolanischen Coiffeurs auf Randall’s Island. Er hat sich mit einem Landsmann vom «Roosevelt» verabredet, der ihm einen Job bei McDonald’s vermittelt hat. Auf die Nachfrage, ob das denn gehe, ohne Arbeitsbewilligung, antwortet er ausweichend, es sei nicht direkt mit McDonald’s, sondern etwas «Telefonisches». Aber dann muss er rasch weiter.

Die frühere Bankangestellte arbeitet jetzt illegal als Putzfrau

Vor dem Hotel steht Georgina mit einem Kaffeebecher. Die Venezolanerin ist vor zwei Monaten nach New York gekommen. Eigentlich hatte sie eine gute Stelle bei einer staatlichen Bank. «Aber wir mussten immer an Kundgebungen für den verhassten Maduro teilnehmen», sagt sie. «Wenn wir uns weigerten, drohten sie uns mit der Kündigung.» Das konnte sie irgendwann nicht mehr mit ihrer Selbstachtung vereinbaren. Zudem habe auch die Kriminalität in ihrem Viertel immer stärker zugenommen, und sie habe Angst um ihren Sohn gehabt.

Sie schaffte es mit dem 17-Jährigen durch den Darién-Dschungel und nach Mexiko. Dort versuchte sie es auf offiziellem Weg: Mit der App CBP One kann man vorab bei den amerikanischen Einwanderungsbehörden einen Termin für einen Asylantrag am Grenzübergang vereinbaren. «Aber nach der Einreichung wartete ich einen Monat, und es passierte nichts.» Der Aufenthalt in Mexiko-Stadt ist für Migranten zunehmend gefährlich. Entweder werde man von der Polizei ausgeraubt oder falle Banden in die Hände, die gezielt Jagd auf Flüchtlinge machten, um sie zu entführen und Lösegeld von den Familien zu erpressen, sagt sie. Also reiste Georgina illegal über Juárez nach Texas ein, von wo aus sie nach New York abgeschoben wurde.

Hier arbeitet sie schwarz als Putzfrau, und ihr Sohn, der Ingenieur werden will, geht zur Schule. Ihr älterer Sohn, der es schon vorher nach Spanien schaffte, studiert dort Kriminalistik. Wenn sie ihre Arbeitsbewilligung erhält, möchte sie in eine kleinere, günstigere Stadt umziehen.

Biden in der Zwickmühle

Eric Adams, der Bürgermeister von New York, macht Druck in Washington, dass die Asylsuchenden schneller zu einer Arbeitsbewilligung kommen. Da der Bedarf an Arbeitskräften so gross ist wie schon lange nicht mehr, müsste man seiner Ansicht nach alles unternehmen, damit Neuankömmlinge möglichst rasch arbeiten können.

Biden ist allerdings, bei aller Offenheit für Adams’ Argumentation, in einer Zwickmühle. Denn zugleich möchte er, ebenso wie der Bürgermeister, abschreckende Signale nach Süden senden, weil man mit der Unterbringung der Migranten schon jetzt ans Limit kommt. Auch will er den Republikanern, die die Einwanderung zu einem der Hauptthemen des Präsidentschaftswahlkampfs gemacht haben, keine neue Munition liefern, indem er zusätzliche Anreize für die Immigration schafft. Umgekehrt hätte allerdings auch die Verschärfung der Einwanderungsbedingungen einen Haken: Oft führt gerade die Aussicht auf strengere Restriktionen zu einem Anstieg der illegalen Grenzübertritte.

Aber so oder so: Wegen der Wohlstandsunterschiede und des ausgetrockneten Arbeitsmarkts üben die USA – trotz allen Schwierigkeiten, dorthin zu gelangen – weiterhin eine magnetische Kraft aus auf Menschen wie Diallo Mukhtar, Kenny Amaya oder Georgina.

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