Freitag, Oktober 4

Chinas Machthaber wollen das Land modernisieren. Dabei vernichten sie historische Gebäude, alte Sprachen, traditionelle Lebensweisen. Was heisst das für die Menschen, die dort leben?

Der frühe Morgen in Kashgar gehörte früher den Tauben und den Liebenden. Die Tauben gurrten, sie schlugen mit den Flügeln. Männer und Frauen, die sie fütterten und fliegen liessen, warfen sich bedeutsame Blicke zu, wechselten ein paar Worte – etwas, was sie sich nur auf den Dächern ihrer Lehmziegelhäuser trauten, nicht aber auf offener Strasse.

Heute gibt es kaum noch private Taubenschläge in Kashgar. Die Regierung hat die alten Lehmziegelhäuser niedergerissen und ihre Bewohner in modernen Wohnblöcken untergebracht.

Die Zerstörung des historischen Kashgar geschah systematisch. Schon 2003 rissen die Behörden das Viertel um die grosse Moschee ab, um Platz für eine Freifläche zu schaffen. 2009 stellte die Regierung ihren Plan für die «Reform gefährlicher Behausungen» vor. Das angekündigte Ziel war, die Häuser erdbebensicher zu machen sowie die Hygiene zu verbessern.

In den darauffolgenden Jahren sollte die Hälfte der Stadtbevölkerung umgesiedelt und die Altstadt demoliert werden, deren Geschichte Jahrtausende zurückreicht. Es verschwanden die verwinkelten Gassen, Märkte, Moscheen. Die Regierung baute stattdessen breite Strassen, Einkaufszentren und Fernsehtürme – und eine glänzend neue «Altstadt» im islamischen Baustil.

Kashgar liegt in Xinjiang im Nordwesten Chinas nahe der Grenze zu Pakistan, Kirgistan und Tadschikistan. In dem offiziell als «autonome Region» bezeichneten Gebiet leben um die zwölf Millionen Uiguren. Sie sind mehrheitlich Muslime, ähneln ethnisch wie kulturell den Menschen in Zentralasien und sprechen eine Turksprache. Wie lange noch?

Ein Jahrzehnt bevor Xinjiang mit den Umerziehungslagern in den weltweiten Fokus rückte, hatte in Kashgar begonnen, was heute offensichtlich ist: das systematische Verdrängen der Sprache, der Kultur und der Religion der Uiguren.

Gelbe Bücher, rote Bücher

Abduweli Ayup nennt Kashgar seine Heimat, obwohl es das Kashgar seiner Kindheit nicht mehr gibt. Er kam 1973 in einer Kleinstadt nahe bei Kashgar auf die Welt. Dort, so sagt man sich, habe der erste Linguist der Turksprachen, Mahmud al-Kashgari, gelebt, studiert und eine Schule gegründet. Jedes Frühjahr fand beim Grab von Kashgari ein Literaturfestival statt. Die Leute lasen ihre eigenen Texte, Gedichte und Essays vor und warfen sie danach in den Fluss, der denselben Namen trägt wie die Stadt: Kashgar.

Kashgari wurde zum grossen Vorbild für Ayup. Dessen Vater war Lehrer und ermutigte ihn schon früh, eigene Texte zu schreiben und zu rezitieren.

Ayup las alles, was ihm in die Finger kam, und lernte bald: Sprache ist politisch. Es gab zu Hause «gelbe» und «rote» Bücher. Die roten standen in den Regalen, die gelben waren versteckt. «Gelb» wurden die Texte, Lieder und Fernsehserien der Uiguren genannt. «Gelb» bedeutete Verbotenes, auch Pornografie war gelb. «Rot» war revolutionäres Rot, Kommunistenrot – so wie die Mao-Bibel.

Neben dem Grab des grossen Mahmud al-Kashgari prangte das Porträt von Mao Zedong, der wenige Jahre zuvor verstorben war. Ayup kannte Mao schon als Achtjähriger, von der Schule, den Slogans, die die Leute auf der Strasse schrien, den roten Büchern. Doch was dem kleinen Abduweli nicht klar war: War Mao Uigure oder Han-Chinese? «Ich habe meinen Vater, der damals in den achtziger Jahren 15 Schulen vorstand, vor versammelter Menge gefragt. Doch mein Vater enttäuschte mich. Er war sehr aufgebracht. ‹Warum fragst du mich das? Wer hat dich beauftragt, mir diese Frage zu stellen?›, sagte er immer wieder.»

Die Antwort auf seine Frage erhielt Ayup schliesslich von seinem älteren Bruder. «Mao ist Chinese. Er war der Mann, der diesen Staat regiert und über unser Land geherrscht hat. Stelle unserem Vater nie wieder eine solche Frage, wenn du ihn nicht in Gefahr bringen willst.»

Eine Stadt unter Besetzung

Kashgar kannte in seiner Geschichte viele Herrscher. Drei chinesische Kaiserdynastien beherrschten die Handelsstadt, ebenso wie der Mongole Dschingis Khan und sein Erbe, der turkmongolische Kriegsherr Timur der Lahme. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert gab es zwei muslimische Rebellionen, die der Stadt für kurze Zeiten die Unabhängigkeit brachten. 1949 ging Kashgar, so wie die ganze Region Xinjiang, an die neugegründete Volksrepublik über. Der Staatsgründer und Parteichef Mao begann sogleich damit, die kulturell wie ethnisch und religiös eigenständige Region ans neue China anzubinden.

Schnellstrassen, ein Flughafen und Eisenbahnlinien wurden gebaut. Der Staat ermutigte Han-Chinesen ab den fünfziger Jahren, sich in Xinjiang anzusiedeln, um die Kontrolle über die Region zu verstärken. Hunderttausende folgten dem Ruf, doch während Urumqi zur Bastion der Han-Chinesen wurde, behielten die Uiguren in Kashgar die Mehrheit. Dennoch waren sie Bürger zweiter Klasse in ihrer eigenen Heimat.

Kashgar war als kulturelles Zentrum der Uiguren oft ein Brennpunkt der Konflikte mit den Han-Chinesen. Regelmässig lehnten sich Uiguren gegen die Regierung, die Polizei und die Grenzbeamten auf, formten Protestbewegungen, warfen Bomben auf Busse und Bürogebäude. Die Volksbefreiungsarmee und die Justiz schlugen brutal zurück, erschossen die Separatisten gleich vor Ort oder verurteilten sie zum Tod. Doch die gewaltsamen Eskalationen nahmen kein Ende.

Besonders einschneidend waren die Zusammenstösse zwischen Uiguren und Han-Chinesen in Urumqi im Jahr 2009, bei denen 200 Menschen getötet wurden. Im Nachgang nahmen die Beamten mehr als 1400 Uiguren fest. Der Parteichef von Urumqi musste seinen Posten räumen. Im selben Jahr begann die Regierung mit der Zerstörung von Kashgar.

Die letzte Chance

Abduweli Ayup wurde Linguist wie sein grosses Vorbild, Mahmud al-Kashgari. Er studierte Uigurisch in Peking und erhielt 2000 eine Stelle als Universitätsprofessor in Lanzhou, einer Stadt im Nordwesten Chinas. 2005 heiratete er, 2007 kam seine Tochter auf die Welt. Bis dahin war sein Leben linear verlaufen. Doch das sollte sich nun ändern.

Ayup wollte, dass seine Tochter eine uigurische Vorschule besuchte. Sie sollte ihre Muttersprache behalten. Dafür zog er wieder zurück in seine Heimat. Offiziell wurde in den Kindergärten und Schulen in Xinjiang auf Uigurisch unterrichtet – doch in der Praxis war alles auf Chinesisch.

Frustriert kehrte Ayup Xinjiang den Rücken und zog in die USA. Er hatte ein Henry-Ford-Stipendium ergattert und konnte so seine Doktorarbeit in Linguistik schreiben an der Universität von Kansas. Seine Tochter, ein Kleinkind, lernte rasend schnell Englisch, während sie immer weniger Uigurisch sprach. «Bis zu diesem Moment war der ‹Sprachtod› für mich bloss ein theoretisches Konzept», erzählt Ayup. «Doch durch meine Tochter begriff ich schlagartig: Millionen von uigurischen Kindern werden ihre Muttersprache verlieren. Für sie muss ich kämpfen. Ich muss für diese Sprache und diese Kultur kämpfen.»

Ayup begann, seine Gedanken zur Erhaltung der uigurischen Sprache in einem Blog niederzuschreiben. Er traf damit einen Nerv. Bald hatten seine Beiträge Hunderttausende Views. Er hatte sich als Intellektueller einen Namen gemacht. Das gab ihm Mut. Jemand Bekanntes würden die chinesischen Behörden sicher nicht verhaften, dachte er.

Also zog er mit seiner Familie im Jahr 2011 zurück nach Xinjiang. Er wollte selber uigurische Kindergärten gründen. Viele Uiguren halfen ihm dabei. Die Kindergärten hätten Hoffnung geweckt, sagt Ayup. Nicht nur bei ihm, sondern bei allen Uiguren, vom Schuhmacher auf der Strasse bis zur Frau des Vizeparteichefs von Xinjiang: «Vielleicht waren diese Kindergärten unsere letzte Chance, etwas auszurichten.»

Er eröffnete einen Kindergarten in Kashgar, einen in Urumqi, Anmeldungen gab es mehr als Plätze, obwohl das Schulgeld fünfmal so hoch war wie für die chinesischen Kindergärten. Ayup reiste in ganz Xinjiang umher, hielt Vorträge in Restaurants.

Ein «besseres» Leben

Zu dem Zeitpunkt war die Zerstörung der historischen Altstadt Kashgars bereits in vollem Gange. Auch in Peking, Suzhou oder Schanghai wurden traditionelle Wohnquartiere dem Erdboden gleichgemacht, sie wichen Wolkenkratzern. In Kashgar ging die lokale Regierung aber besonders radikal vor. Zunächst wurde noch ein kleiner Teil der historischen Quartiere erhalten, doch auch dieser fiel nach ein paar Jahren.

In ihren neuen, modernen Stadtwohnungen fühlten sich viele Uiguren nicht wohl. Es mussten neue, teure Möbel und Haushaltsgeräte angeschafft werden – und es fielen allerhand Gebühren an für Strom, Wasser, Gas und das Quartiermanagement.

Dann, 2022, wurde auch noch der Grosse Basar von Kashgar geräumt. Es war der grösste Markt im Nordwesten Chinas, er knüpfte an die Tradition des Orts an als wichtiger Knotenpunkt der Seidenstrasse. Viertausend Händler boten dort Teppiche, Trockenfrüchte und Tee an – alles, was man sich wünschen konnte, fand man im Grossen Basar. Geschichtenerzähler traten auf, Musiker hörte man im Gewusel, es war ein Ort, an dem sich die Uiguren sonntags trafen, Schwätzchen hielten.

Mit der Zerstörung des traditionellen Kashgar verschwanden Quartierschulen, Moscheen, Friedhöfe, Kulturzentren, in denen die Uiguren früher getanzt hatten. Es verschwanden das Leben, die Sprache, die traditionellen Gewohnheiten. Nun steht an der Stelle des alten Kashgars eine Art Vergnügungspark im islamischen Baustil, in dem das echte Leben zur Darstellung wird. An jeder Ecke gibt es Polizeiposten, Uniformierte, Ganzkörperscanner.

Im Kern ging es den Machthabern in Peking nicht um Modernisierung oder um Fortschritt, um Sicherheit oder Hygiene. Es ging darum, sich die Stadt zu eigen zu machen. Aus der Wiege der uigurischen Kultur wurde eine chinesische Stadt mit einem Anstrich lokaler Folklore. Xi bezeichnet die verschiedenen ethnischen Gruppen in China als «Granatapfelkerne in der Familie der chinesischen Nation». Es gelte, gemeinsam das Mutterland aufzubauen und ein «besseres Leben» zu schaffen.

Kashgar ist jetzt ein beliebtes Touristenziel für Menschen aus ganz China. Sie schlendern durch die neu aufgebaute Altstadt und die neuen Märkte, trinken Granatapfelsaft, lassen sich in «uigurischen» Kleidern fotografieren. Angst vor Anschlägen, Aufständen oder Gewalt haben sie keine. Für sie ist Kashgar jetzt tatsächlich besser.

Ein sprachloses Volk

Ayups Fall kam schneller als gedacht, er fiel mit der Zeit von Xi Jinpings Machtübernahme zusammen. Erst wollten ihm Vermieter keine Räumlichkeiten für die Kindergärten mehr zur Verfügung stellen. «Dann warnten mich meine Kontakte davor, dass ich in wenigen Wochen, dann in wenigen Tagen verhaftet werden würde. Und so war es dann auch.» Am Abend vor einer Konferenz zur uigurischen Sprache, die Ayup organisiert hatte, verhörten ihn zwei Polizisten bis zwei Uhr nachts. Tags darauf war sein Handy gesperrt. Die Kindergärten wurden geschlossen.

Im August 2013 wurde Ayup verhaftet, der Vorwurf lautete «illegales Fundraising». 15 Monate verbrachte er im Gefängnis. Über die Greueltaten, die ihm dort angetan wurden, schrieb er ein Buch.

Sie sagten mir, ich solle mich ausziehen, und sie spielten mit mir wie mit einem Affen im Zoo . . . Als sie mich verhaftet hatten, hatte ich mir vorgestellt, dass sie mir die Fingernägel herausreissen würden, mir Elektroschocks verpassen oder mich verprügeln könnten . . . aber dass sie mich auf diese Weise demütigen würden, das hätte ich mir nie vorstellen können. In diesem Moment phantasierte ich, wie schön es gewesen wäre, wenn sie mich einfach erschossen oder erstochen hätten . . . oder wenn ich mich einfach hätte erhängen können.

Was er im Gefängnis erlebt hatte, zeigte Ayup, zu welchen Taten seine Unterdrücker fähig waren – und was noch alles auf seine Heimat zukommen würde. Das Datensystem der Massenüberwachung, die Kameras, selbst die Masseninternierung hätten damals bereits begonnen, sagt er. «Ich wusste, kein Uigure ist mehr sicher.»

2014 floh Abduweli Ayup zusammen mit seiner Familie ins Ausland. Heute lebt er in Norwegen. Schuldgefühle plagen ihn, weil er davongekommen ist. Der Freund, der ihn damals zum Flughafen gebracht hat, wurde verhaftet und zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Nichte, die in ihren Semesterferien freiwillig in seinen Kindergärten unterrichtet hat, starb im grossen Gefängnis von Kashgar.

Ist das, was in Xinjiang passiert, ein Genozid?

«Was bleibt von einem Uiguren, wenn du ihm die Sprache nimmst?», fragt der Linguist Ayup. «Wir leben in einer modernen Welt. Es braucht keine Atombombe und keine Gaskammern, um ein Volk auszulöschen.»

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