Der Bundesrat engagiere sich zu wenig beim Ausbau der erneuerbaren Energien, kritisiert Ronny Kaufmann, Chef des Stadtwerke-Netzwerks Swisspower. Auch die Aufhebung des AKW-Verbots ergebe keinen Sinn.
Herr Kaufmann, Bundesrat Albert Rösti will, dass in der Schweiz wieder Kernkraftwerke gebaut werden dürfen. Warum sind die Stadtwerke dagegen?
Eine deutliche Mehrheit der Stimmbevölkerung hat sich im letzten Jahr für ein neues Stromgesetz ausgesprochen. Sie will ein System erneuerbarer Energien und nicht neue Kernkraftwerke. Diese produzieren weder erneuerbare Energie, noch sind sie klimaneutral, mit den Unmengen an Stahl und Beton, die verbaut werden müssen. Auch der Zeitpunkt für eine Aufhebung des Neubauverbots ist falsch. Die grösste Abhängigkeit von Stromimporten wird nach der Abschaltung der Atomkraftwerke Mitte der 2030er Jahre bestehen. Bis dann wird sowieso kein neues gebaut.
Früher haben sich einzelne Stadtwerke – das EWZ – am Bau von Kernkraftwerken beteiligt. Ist das heute nicht mehr denkbar?
Nein. Die Schweizer Städte werden keine Kernkraftwerke mehr bauen, dafür sind die wirtschaftlichen Risiken viel zu gross. Zudem investieren die Stadtwerke bereits stark in die Produktion von erneuerbarer Energie, sowohl bei Strom als auch bei Fernwärme.
Bundesrat Rösti findet, es müsse möglich sein, Leibstadt oder Gösgen zu ersetzen, wenn der Ausbau der Erneuerbaren nicht rasch genug vorwärtsgeht.
Albert Rösti ist ein echter Produktionsminister. Er engagiert sich sehr für den Ausbau der Wasserkraft, der Photovoltaik und der Windkraft. Ich begrüsse das. Neue Kernkraftwerke aber ergeben systemisch keinen Sinn. Im Sommer fliesst uns der Strom bereits heute aus beiden Ohren. Mit ihrer ganzjährig konstanten Stromproduktion würden sie die Überproduktion noch verschärfen. Zudem wären die neuen Reaktoren bei den stark schwankenden Strompreisen nicht rentabel betreibbar.
Und wo soll dann der Strom im Winter herkommen?
Was wir brauchen, ist ein «Rösti-Plan» für den schnelleren Zubau von erneuerbarer Energie. Erstens brauchen wir eine Steigerung der Produktionskapazität der Grosswasserkraft. Zweitens muss der Ausbau von Wind- und PV-Anlagen mit hohem Winteranteil vorangetrieben werden. Drittens müssen wir dafür sorgen, dass wir den überschüssigen Strom vom Sommer in den Winter transferieren können. Dazu braucht es Power-to-X-Anwendungen, die Strom in synthetisches Gas umwandeln können, sowie Investitionen in Speicher für Haushalte, Quartiere und die Flusswasserkraft. Neue Kernkraftwerke führen nur dazu, dass die Förderbeiträge für diese Anlagen umgeleitet werden – und am Schluss die erneuerbare Energie verdrängt wird.
Die Bevölkerung in der Schweiz wächst stark, der Bau grösserer Kraftwerke kommt wegen Beschwerden nicht recht vom Fleck. Es liegt nahe, dass wir am Schluss nicht genug Strom haben werden, wenn die bestehenden Kernkraftwerke wegfallen.
Ich wäre da nicht so skeptisch. Infolge der dezentralen Photovoltaikanlagen und des Eigenverbrauchs ist der Netzabsatz unserer Stadtwerke in den letzten Jahren trotz Bevölkerungswachstum, Wärmepumpen und Elektromobilität nicht merklich gestiegen. Mit anderen Worten: Wir verbrauchen Strom vor Ort – dort, wo er produziert wird. Das macht uns resilienter in Situationen wie am letzten Montag, als auf der Iberischen Halbinsel der Strom ausfiel. Die Szenarien, die von einem Strommangel ausgehen, verkennen zudem, dass wir im letzten Jahr netto knapp 15 Terawattstunden Strom exportiert haben – ein grosser Teil stammte von unseren Stauseen. Der Bund muss sich aber mittelfristig beim Ausbau der erneuerbaren Energien finanziell stärker engagieren.
Was meinen Sie damit?
Heute verharrt der Bund in der Rolle als Gesetz- und Verordnungsschreiber. Er macht es sich damit zu einfach. Schon 2011 beim Entscheid des Bundesrates zum Ausstieg aus der Kernenergie haben wir gefordert, dass der Bund einen Fonds für die Energiewende auflegt. Leider hat er es seither den Kantonen und Städten überlassen, den Umbau zu finanzieren. In der Schweiz müssen wir sechzig Prozent der fossilen Energie ersetzen. Die Mittel für diese Investitionen können die Städte und Kantone nicht allein aufbringen.
Der Bund soll den Bau von Kraftwerken mitfinanzieren?
Ja, er muss eine aktivere Rolle übernehmen. Wäre man beim Aufbau der Verkehrsinfrastruktur so vorgegangen wie heute bei der Energie, hätten die Gemeinde Altdorf und der Kanton Uri den Gotthardtunnel realisieren müssen. Der Tunnel wäre auf diese Weise sicher nie gebaut worden. Der Bund darf sich daher nicht mit der Rolle des Gesetzesschreibers begnügen und darauf setzen, dass es dann der Markt richtet. Denn dieser Markt, das sind fast ausschliesslich die öffentlichen Unternehmen der unteren föderalen Stufe.
Die Kantons- und Stadtwerke haben in den letzten Jahren gutes Geld auf diesem Markt verdient. Tragen sie denn nicht auch eine Verantwortung bei der Versorgungssicherheit?
Solange die Energiemärkte funktionieren, können unsere Werke die Kunden jederzeit mit Energie versorgen. Zum einen, weil sie diese Mengen zu Marktpreisen beschaffen können, zum anderen, weil die Eigenproduktion stark ausgebaut wurde. Die Energiekrise nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat aber gezeigt, dass die Märkte eines Tages plötzlich nicht mehr funktionieren können. Darum muss sich die Schweiz noch stärker selber mit Energie versorgen. Die Städte und Kantone allein verfügen aber nicht über die Investitionsmittel, um einen solchen Ausbau zu stemmen. Und schon gar nicht, um neue Kernkraftwerke zu bauen.
Der Energiesektor müsste also neu organisiert werden?
Wir müssen erkennen, dass die gegenwärtige Steuerung der Energiewende mangelhaft ist. Die Städte und Kantone stossen mehr und mehr an die Grenze der Machbarkeit. Ihre Werke haben schon Hunderte von Millionen in erneuerbaren Strom, grüne Gase sowie in Strom-, Gas- und Fernwärmenetze investiert. Nun sind viele schlicht nicht mehr in der Lage, noch mehr zu investieren.
Sie wollen aber keinen Bundesbetrieb für den Strom?
Nein, das nicht. Aber ich möchte einen Bundesrat, der sich seiner Verantwortung bewusst ist. Energieminister Rösti sagt mir jeweils: «Ihr von der Branche seid für die Versorgungssicherheit zuständig.» Aber wer ist das de facto? Die Kantone und die Städte. Man kann uns in der gegenwärtigen geopolitischen Lage nicht alles aufbürden. Der Bund muss über kurz oder lang mehr Geld in die Hand nehmen.
Würde ein Stromabkommen mit der EU mehr Versorgungssicherheit gewährleisten?
Die Schweiz braucht für eine robuste Versorgungssicherheit im Energiesektor ein Stromabkommen mit der EU. Das ist klar für mich. Allerdings kenne ich das Verhandlungsergebnis im Detail noch nicht. Darum halte ich mich mit Äusserungen zurück. Ich befürchte aber, dass die damit verbundene vollständige Liberalisierung des Strommarkts den Ausbau der Produktion erneuerbaren Stroms in unserem Land eher nach hinten verschiebt.
Wie kommen Sie darauf?
Die höhere Volatilität bei den Preisen im geöffneten Strommarkt könnte dazu führen, dass den Kantonen und Städten am Schluss weniger Geld für den Ausbau der erneuerbaren Energien zur Verfügung stünde. Insofern braucht es ein Stromabkommen nicht um jeden Preis.
Ronny Kaufmann ist CEO der Swisspower AG und Verwaltungsrat der Schweizerischen Post. Er hat an der Universität St. Gallen und in Genf studiert und ist als Dozent an Universitäten und Hochschulen tätig.