Mittwoch, Januar 22

Häuser, Brücken, Dämme – wer sich für die Stabilität von Infrastruktur interessiert, hat denkbar grosse Studienobjekte. Dank geschickter Manipulation der Schwerkraft können Forscher an der ETH mit Miniaturen experimentieren.

Langsam beginnt sie sich zu drehen. Die leuchtend blaue Stange saust immer schneller durch den Raum, bis man ihr mit den Augen kaum noch folgen kann. Alle Augen im Hörsaal sind auf den Bildschirm gerichtet, auf dem das Live-Bild aus der Zentrifugenkammer übertragen wird.

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Das «blaue Biest» nennen die Mitarbeiter die gigantische Zentrifuge, die am vergangenen Freitag am Institut für Geotechnik der ETH Zürich eingeweiht wurde. Ihr massiver Stahlarm ist neun Meter lang, 20 Tonnen schwer und strahlend blau angestrichen. Dreht er sich, sausen die Enden mit mehr als 200 km/h durch den Raum.

Es ist die stärkste Zentrifuge Europas, eine der stärksten auf der ganzen Welt. Mit ihrer Hilfe wollen die Geotechniker der ETH herausfinden, wie man Häuser vor Erdbeben schützen kann, warum Brückenpfeiler bei Überflutungen weggespült werden oder wie man eine Windturbine auf hoher See vor dem Umkippen bewahrt. Denn dank der Zentrifuge können sie Experimente mit Miniaturen machen, anstatt Häuser, Brücken oder Windturbinen in Originalgrösse nachzubauen.

Miniaturen, die so schwer sind wie das Original

Wollen die Wissenschafter etwa untersuchen, wie genau ein Haus bei einem Erdbeben zusammenbricht, dann bauen sie es in einem Hundertstel der Originalgrösse nach. Ein zehn Meter hohes Haus ist im Modell nur noch zehn Zentimeter gross, eine zwanzig Meter dicke Schicht Boden wird von zwanzig Zentimetern Sand repräsentiert. Das Ganze steht auf einer sogenannten Schüttelplatte, die ein Erdbeben simulieren kann.

Doch wozu braucht es jetzt die Zentrifuge? Das Problem ist das Gewicht. In der Miniatur wiegt alles viel weniger, als es in der Realität der Fall wäre. Das sei besonders für den simulierten Boden relevant, erklärt Ioannis Anastasopoulos, Professor für Geotechnik an der ETH Zürich und wissenschaftlicher Leiter des Zentrifugenzentrums. «Wenn Sie am Strand etwas Sand durch ihre Finger rieseln lassen, dann ist der ganz weich und locker. Aber Sand, auf dem das Gewicht von zwanzig Metern Erdreich lastet, das ist ein komplett anderes Material», erklärt Anastasopoulos.

Deswegen erzeugen die Wissenschafter mithilfe der Zentrifuge eine künstliche Gravitation, die dem hundertfachen der Erdanziehung entspricht. In der Zentrifuge wiegen das Miniatur-Haus und die dünne Sandschicht so viel wie in der Realität. Das erlaubt den Forschern, die Ereignisse zum Beispiel während eines Erdbebens realitätsnah nachzustellen.

Die Zentrifuge funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie ein Kettenkarussell. Die beiden blauen Stahlschaukeln an den Enden des dicken Zentrifugenarms sind die Sitze des Karussells. Sobald sich die Zentrifuge dreht, werden die Schaukeln von der Zentrifugalkraft nach aussen gedrückt. Was auch immer sich auf den Schaukeln befindet, wird dabei fest in den Sitz gedrückt. Dreht sich die Zentrifuge schnell genug, drückt die Zentrifugalkraft das Experiment hundertmal stärker gegen die Schaukel, als die Erdanziehung nach unten zieht.

Und auch die Miniaturen sind so realistisch gebaut, wie es nur geht. Im Labor zeigt Anastasopoulos einen Miniatur-Brückenpfeiler, nur zwei Zentimeter dick und fünfzehn Zentimeter lang – und doch aus echtem Beton gebaut, mit einem winzigen Stahlgerüst im Inneren. Im Experiment haben die Forscher den Pfeiler so lange verschiedenen Belastungen ausgesetzt, bis er am oberen Ende gebrochen ist. «Wir machen Dinge im Labor kaputt, damit sie in der realen Welt nicht kaputtgehen», sagt Anastasopoulos.

Wie man das Biest zähmt

Theoretisch könnte die Zentrifuge die Miniaturen sogar bis zu 250-mal so schwer machen, wie sie sind. Doch tatsächlich lässt man die Zentrifuge an der ETH nie mit ihrer maximalen Geschwindigkeit rotieren. «Sie ist bei hundertfacher Gravitation schon beängstigend genug», sagt der Laborleiter Ralf Herzog.

Denn das blaue Biest ist nicht ganz ungefährlich. Wenn es sich dreht, sind extreme Kräfte am Werk. Würde etwas von einer der Schaukeln herunterfallen oder sich gar eine der Schaukeln lösen, würde das lose Teil mit gigantischer Wucht gegen die Wand geschleudert. Zur Sicherheit steht die Zentrifuge darum in ihrem eigenen kleinen Bunker, durch dreissig Zentimeter dicke Betonwände von der Aussenwelt abgeschirmt. Während sie sich dreht, darf niemand im Raum sein, nicht einmal im Raum nebenan oder oberhalb der Zentrifuge darf man sich aufhalten. Die Wissenschafter und Techniker, die die Zentrifuge steuern, sitzen in einer Schaltzentrale in einem anderen Teil des Gebäudes.

Fast wäre es nie zum Einbau der Zentrifuge gekommen, wie Anastasopoulos sagt. Denn nicht nur Sicherheitsrisiken mussten bei der Planung berücksichtigt werden, sondern auch die empfindlichen Nachbarn. Direkt neben dem Bunker der Zentrifuge entsteht nämlich das neue Gebäude für Quantenphysik. Die Sorge der Physiker, die Zentrifuge könnte wie eine Waschmaschine im Schleudergang wackeln und mit ihren Vibrationen ihre hochsensiblen Experimente stören, hätte die Installation beinahe verhindert. Doch man fand eine Lösung. Heute ruht der gesamte Betonbunker, in dem sich die Zentrifuge befindet, auf vier riesigen Stahlfedern. Sie schirmen die Vibrationen des gesamten Raums von der Aussenwelt ab.

Die Zentrifuge dreht sich nicht zum ersten Mal

Bei der Einweihung hat das blaue Biest derweil die gewünschte Geschwindigkeit erreicht. Die Flasche Champagner, die in einer ihrer Schaukeln platziert wurde, ist jetzt zwanzigmal so schwer wie in der Realität. Plötzlich ein Knall. Ein Roboterarm hat die Flasche von ihrem Podest gekippt. In der Zeitlupenaufnahme sieht man sie fallen – zwanzigmal so schnell wie sonst – und zerschellen. Damit ist die grösste Zentrifuge Europas offiziell eingeweiht.

Für Ioannis Anastasopoulos ist es der Abschluss von beinahe zehn Jahren Planung und Organisation. Ein Kollege hatte ihm damals von einer grossen Zentrifuge erzählt, die Anastasopoulos beinahe kostenlos haben könne. Denn das blaue Biest ist alles andere als neu. Schon 1985 wurde die Zentrifuge in Bochum zum ersten Mal eingeweiht. Bevor sie nach Zürich kam, verstaubte sie jahrelang in Einzelteilen in einer Lagerhalle.

Seit vier Jahren steht die Zentrifuge nun bereits an der ETH, seit August 2023 laufen erste Experimente. Die offizielle Einweihung wollte Anastasopoulos jedoch bewusst erst am 17. Januar 2025 abhalten. Denn der Tag hat für ihn eine besondere Bedeutung. Genau 30 Jahre vorher zerrüttete ein starkes Erdbeben in Japan die Stadt Kobe. Für Anastasopoulos, damals noch Student in Griechenland, waren die Bilder der Katastrophe ausschlaggebend, sich der Erforschung von Erdbeben zuzuwenden.

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