Donnerstag, November 21

Der israelisch-palästinensische Konflikt kann als ein ausser Kontrolle geratener Wettbewerb um den Opferstatus verstanden werden. Das zeigten die antisemitischen Übergriffe in Amsterdam.

«Ich verstehe, dass dies Erinnerungen an Pogrome weckt. Es ist unerträglich, dass dies in Amsterdam passiert ist», sagte Amsterdams Bürgermeisterin Femke Halsema nach den gewalttätigen antisemitischen Vorfällen rund um das Spiel Ajax gegen Maccabi Tel Aviv.

Als ich einige Tage später bei einer öffentlichen Diskussion in Brüssel leicht ironisch von einer «milden Form der Judenjagd» sprach, kam ein junger Mann auf mich zu und fragte mich leicht missbilligend, warum ich die israelische Staatspropaganda wiederholen würde. Ob ich denn nicht wisse, dass es sich bei den Maccabi-Anhängern um Soldaten der israelischen Armee (IDF) handle, die wahrscheinlich Kriegsverbrechen begangen und ausserdem ihre Angreifer in Amsterdam provoziert hätten?

Die Unerträglichkeit einer solchen Judenjagd mag für einige selbstverständlich sein, aber nicht wenige Menschen in den Niederlanden und anderswo sehen das anders. In einer Gesellschaft, in der es den Konsens über grundlegende Tabus nicht mehr gibt, wird Ironie zu einer komplizierten Angelegenheit, da sie auf einem gemeinsamen Verständnis der Grenzüberschreitung beruht.

Glorifizierte Gefühle

Es ist schwer zu sagen, ob die jüngsten Judenjagden in Amsterdam auch ohne vorangehende Provokationen stattgefunden hätten. Sicher ist, dass die Judenjagd im historischen Kontext Europas einen schwerwiegenden Verstoss darstellt. Die Reaktionen von Halsema sowie von Macron und Biden machen dies deutlich. Gleichzeitig stelle ich fest, dass ein Teil der Bevölkerung – und keineswegs etwa nur Muslime – jeden Hinweis auf den Holocaust zunehmend als israelische Propaganda ansieht.

Die Folgen der Ereignisse in Amsterdam machen deutlich, dass es keine geteilte objektive Grundlage mehr gibt für die Beurteilung und Deutung von Tatsachen. Die Subjektivierung wurde im Zuge der Wokeness und ihrer Ideologien geheiligt. Man muss nicht mehr beweisen, dass man beleidigt worden ist; das Gefühl, beleidigt zu sein, reicht für eine Anschuldigung und manchmal sogar für eine Verurteilung. Man muss nicht beweisen, dass man in Gefahr ist; es reicht, sich gefährdet zu fühlen.

Die Glorifizierung subjektiver Gefühle und die Inthronisierung des Opfers als Held, ja die Sucht nach der Opferrolle gehen Hand in Hand, eine Sucht, die für die Gesellschaften im Nahen Osten charakteristisch ist. Das palästinensisch-israelische Problem kann als ein ausser Kontrolle geratener Wettbewerb des Leidens beschrieben werden, von dem auch ein Teil der jüdischen Gemeinschaft ausserhalb Israels seit einiger Zeit erfasst wird.

Wenn die Opferrolle zu einem Status verhilft und einem das Recht verleiht, für sich selbst zu sprechen, wird sich die Mehrheit früher oder später in Opfer verwandeln. Das ist unvermeidlich. Wenn Unsicherheit nur ein Gefühl ist, dann kann auch eine Asylkrise nur ein Gefühl sein. Wenn die Identifikation mit den Opfern das höchste Gut ist, dann kann Geert Wilders – dessen Anhänger sich selbst als Opfer sehen – frei über die Abschiebung randalierender Jugendlicher oder antisemitischer Jugendlicher oder antisemitischer Jugendlicher marokkanisch-niederländischer Abstammung sprechen. Es spricht der leidende Mann. Und die Fakten? Sind Youtube-Videos nicht deutlich genug?

Sind die Geschichte und ihre berühmten Lehren nicht deutlich genug? Der niederländische Soziologe Willem Schinkel hat die Geschichte studiert und ist zu dem Schluss gekommen: «Die Befreiung ist auf jeden Fall antiweiss, auch wenn wir noch nicht wissen, wie.» Der eine sieht den Weissen als geborenen Schuldigen, ein anderer den Muslim oder den Juden, ein Dritter den Israeli. Die geborenen Schuldigen muss es immer geben, ohne sie macht das Leben keinen Spass.

Man erkennt sich im anderen

Wenn man einen Schritt zurücktritt und den Emotionen nicht den Vorrang einräumt, sieht man, dass diese jungen Männer auf ihren Rollern und die glühenden Maccabi-Anhänger sich sehr ähneln. Die Leidenschaft nimmt unterschiedliche Formen an; in Tel Aviv bringt sie randalierende Maccabi-Anhänger und fanatische IDF-Soldaten hervor. In Amsterdam-West träumt sie von einem Motorroller. Die jungen Männer gerieten nicht deshalb aneinander, weil sie sich so sehr unterschieden, sondern weil sie etwas im anderen erkannten – sich selbst.

Abel Herzberg, einer der klarsten Denker, die die Niederlande hervorgebracht haben, ein Überlebender von Bergen-Belsen und Zionist, sagte nach dem Zweiten Weltkrieg, dass er es vorziehe, nicht über die Deutschen zu urteilen, weil er als Jude gar nicht habe in Versuchung kommen können. Dieser Vorbehalt erscheint mir wesentlich. Er rechtfertigt oder erklärt nicht alles, aber er macht vieles verständlich. Der Mensch ist ein Wesen, das in Versuchung gerät und dieser Versuchung oft erliegt. Wenn man seinen Gegner auf diese Weise betrachtet, sieht man nicht unbedingt das Monster, das man zuerst gesehen hat.

Es ist bedauerlich, dass diese Sichtweise durch die woke Ideologie, durch die Verherrlichung der Subjektivität behindert wird. Man ist nicht befreit und nicht woke, solange man sich nicht öffentlich offenbart hat, zum Beispiel als weissen Cis-Mann. Ich halte das Recht, hinter verschlossenen Türen ein anderes Leben zu führen als in der Öffentlichkeit, für ein grundlegendes Menschenrecht. Die Menschen sollten bis zu einem gewissen Grad das Privileg haben, sich zu verbergen.

Klugheit ist kein Laster

Ich würde nicht mit Ajax-Fahnen durch Rotterdam rennen. Und wenn ich zu einer Trump-Kundgebung gehe, werde ich einen MAGA-Hut tragen. Klugheit ist in solchen Fällen kein Laster. Ein gewisses Mass an öffentlicher Unsichtbarkeit gehört meiner Meinung nach zu einem geglückten Leben. Als Maccabi-Fan hätte ich gedacht: Das ist nicht der richtige Moment, um mit israelischen Fahnen durch Amsterdam zu laufen. Auf jeden Fall würde ich mich nie in eine Fahne hüllen.

Diejenigen, die in ihrer Identität das wahre, endgültige und einzige Wort sehen, sind nicht zur Toleranz bereit. Sie sprechen nicht in ihrem eigenen Namen, sondern immer als Mitglied der Gruppe, der sie anzugehören glauben. Und dabei vergessen sie einmal mehr, dass sie so leicht die anderen hätten sein können.

Es ist diese Vergesslichkeit, die oft als Engagement missverstanden wird und unweigerlich zur Produktion von Feindbildern führt. Die Menschen sind gegen Antisemitismus und glauben deshalb, dass Muslime deportiert werden können. Sie finden Gaza beschämend und halten es deshalb für legitim, Menschen mit einer Kippa zu belästigen oder darüber zu phantasieren, Juden die Kehlen aufzuschlitzen.

Und jeder hat seine Lieblingsminderheit, die er bereitwillig gegen eine andere ausspielt. Der eine liebt die Juden, der andere die Muslime. Aber die Juden müssen die richtige Meinung haben, sonst sind sie sofort Kapos oder Mitglieder des Sonderkommandos. Dass dies die Erinnerung an das Sonderkommando trübt, ist für den Aktivisten Nebensache.

Ob es um 9/11, den 7. Oktober 2023 oder die Jagd nach einem Fussballspiel in Amsterdam geht: Die Reaktion, die Überreaktion, ist unter Umständen schädlicher als der Vorfall selbst. Relativieren ist nicht nur eine Überlebensstrategie, sondern auch ein Weg, um zu koexistieren. Natürlich kann die Relativierung zu Verharmlosung führen, zum leichtfertigen Herunterspielen von schweren Verbrechen. Aber solange wir in einer Kultur leben, in der persönliche Subjektivität und Identität Götzen sind, in der jeder die Krone der Opferrolle tragen will, ist eine solche Relativierung eine nützliche Medizin.

Arnon Grünberg ist ein niederländischer Schriftsteller und Journalist. Er lebt und arbeitet in New York. – Aus dem Englischen von rbl.

Exit mobile version