Dienstag, November 5

Bilder Kim Hong Ji / Reuters

Sie können bis zu vier Minuten ohne Sauerstoff tauchen und sammeln seltene Meerestiere. Ihr Beruf droht auszusterben. Aber es gibt Hoffnung.

Sie tanzen in Neoprenanzügen zu koreanischen Pop-Hits oder tauchen auf den Meeresboden und sammeln Schnecken. Auf Youtube haben sie 44 000 Abonnenten, ihr meistgeschautes Video hat 1 Million Aufrufe. Woo Jung Min und Jin So Hee sind Influencerinnen auf Youtube, beide 30 Jahre alt und moderne Haenyeo. Sie sind die zeitgemässen Werbeträgerinnen und die Hoffnung der Haenyeo. Die Hoffnung für einen Beruf, der bald verschwinden könnte.

Die Haenyeo leben auf der Insel Jeju in Südkorea, 80 Kilometer vom Festland entfernt. Auf Deutsch übersetzt bedeutet Haenyeo «Meerfrau». Die Taucherinnen sind im Schnitt 70 Jahre alt. Über mehrere Stunden am Tag sammeln sie Muscheln, Seegurken, Seeigel oder Schnecken auf dem Meeresgrund, teilweise unter rauen Bedingungen. Die gesammelten Meerestiere werden von ihnen geschält oder gehäutet und danach als Delikatesse verkauft.

2016 wurden die Haenyeo in die Unesco-Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen. Ihr Gewerbe lässt sich nicht durch Maschinen oder Fischernetze ersetzen, denn es beruht auf sorgfältiger Handarbeit. Alle Einwohner auf Jeju hätten mindestens eine Haenyeo in der Familie, heisst es auf der koreanischen Seite der Unesco. Und trotzdem droht ihre Lebensform zu verschwinden, denn die Haenyeo haben ein Nachwuchsproblem.

Wie die Haenyeo das Matriarchat auf Jeju gegründet haben

Die Geschichte der Haenyeo reicht zurück bis ins 17. Jahrhundert. Damals tauchten Frauen und Männer zusammen. Es gibt unterschiedliche Theorien, wie die Tätigkeit der Haenyeo zum Frauenberuf wurde.

Einige Geschichten besagen, dass die Ausbeute der Männer an Meerestieren geringer war als die der Frauen. Angeblich führe die männliche Physiologie dazu, dass Männer den Wasserdruck schlechter vertrügen. Eine andere Theorie erklärt, dass Steuern auf die Arbeit von Männern erhoben worden seien. Und somit der Beruf für Männer nicht mehr lukrativ gewesen sei, für Frauen aber schon.

Seit die Frauen das Gewerbe übernommen haben, gilt Jeju als ein Ort mit matriarchalischen Strukturen. Bis heute sind die Haenyeo oft die Hauptversorgerinnen der Familie und das Familienoberhaupt.

Bild links: Woo Jung Min zeigt die von ihr gesammelten Seegurken.
Bild rechts: Auf einem gefundenen Stück Plastik fangen Seescheiden an zu wachsen.

Bild links: Die gesammelten Meerestiere werden als Delikatessen verkauft, so auch diese Seeigel.
Bild rechts: Mit ihren Youtube-Filmen begeistert Jin So Hee Tausende Fans, wenn sie ins Meer abtaucht, um Schnecken, Seegurken oder Muscheln zu sammeln.

In den 1970er Jahren waren die Haenyeo die treibende Wirtschaftskraft auf Jeju. Zu jener Zeit gab es laut verschiedenen Quellen Zehntausende von ihnen. Vor zwanzig Jahren waren es noch 6000. Heute existieren noch 4000.

Die Haenyeo können mit einem Atemzug bis zu vier Minuten lang abtauchen. Bis auf eine Tiefe von zehn Metern. Sie tragen dabei einen Neoprenanzug, eine Tauchermaske, einen Bleigurt, Handschuhe und Flossen. Mit einem eisernen Haken lösen sie die Meerestiere von Felsen und mit einem Netz sammeln sie ihre Ausbeute ein. Eine orange Boje markiert ihren Standort im offenen Meer.

Wenn die Haenyeo auftauchen, hört man sie von weit weg. Das liegt an ihrer Atemtechnik, die Sumbisori genannt wird. Es ist ein Pfeifen, das so klingt, wie wenn ein Hundebesitzer seinen Hund zurückpfeift oder der Dampfkochtopf genügend Druck aufgebaut hat.

Der Ton entsteht, wenn die Taucherinnen die Oberfläche durchbrechen und sie nach einigen Minuten das Kohlendioxid aus- und Sauerstoff einatmen. So entstehe das «Hooi-Hooi»-Geräusch. Sumbisori ermöglicht es den Haenyeo, in kurzer Zeit möglichst viel frische Luft einzuatmen. Um die Atemtechnik zu meistern, braucht es viele Jahre.

Nur fünf Prozent werden Haenyeo

Im September ist der Dokumentarfilm «Die letzten Frauen des Meeres» von der Regisseurin Sue Kim erschienen. Im Film werden die Haenyeo in ihrem Arbeitsalltag begleitet. Joo Hyun Kim ist Schulleiter der Jeju Hansupul Haenyeo School, die seit 16 Jahren Haenyeo ausbildet. Er sagt im Film: «Wir haben bis jetzt 840 Frauen ausgebildet, aber nur fünf Prozent werden Haenyeo.» Die Schülerinnen würden lernen, wie schwer das Leben einer Haenyeo sei, sagt er. Viele würden den Berufstraum dann nicht weiterverfolgen.

Das Handwerk der Haenyeo wird von Generation zu Generation weitergegeben. Im Film spricht die 67-jährige Haenyeo Yeong Ae Jeong von einem Generationenunterschied. Sie sagt, die Jüngeren hätten die Ausdauer nicht, die es brauche, um wie eine Haenyeo zu leben. Viele Junge zieht es auf das Festland, dort gibt es grössere Städte und Arbeit mit besserem Lohn. Yeong sagt, heutzutage wolle niemand mehr Haenyeo werden. Eine andere Haenyeo sagt im Film: «Jetzt arbeiten nur noch Omas im Meer.»

Etwas Hoffnung machen die Influencerinnen Woo Jung Min und Jin So Hee. Auf ihrem Youtube-Kanal beantworten sie Fragen zum Beruf der Haenyeo, erklären, wie die Ausrüstung funktioniert, oder zeigen, wie man einen Tintenfisch mit blossen Händen fängt. Durch ihren Auftritt in den sozialen Netzwerken bringen sie jungen Leuten eine alte Tradition etwas näher. Damit auch Frauen, die keine Omas sind, wieder im Meer arbeiten.

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