Angesichts der Weltlage erhält eine alte Forderung wieder Auftrieb: die der Taschenmunition für Soldaten. Militär- und Schiessverbände unterstützen die Idee. Doch das Vorhaben bleibt umstritten – und birgt Risiken.

Es ist eine Forderung, die mit viel Romantik und Nostalgie verbunden ist: Die sogenannte Taschenmunition, zwanzig Gewehr- oder Pistolenpatronen, soll wieder an alle Armeeangehörigen abgegeben werden. Die Munition zu Hause vervollständigt das Bild des wehrhaften Schweizers, der zugleich Bürger und Soldat ist, der Vaterland, direkte Demokratie und Freiheit verteidigt. Ohne Munition, nur mit dem Gewehr, wirkt er unvollständig, wird teilweise belächelt.

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Noch vor zwei Jahren ist ein Vorstoss des SVP-Nationalrats Jean-Luc Addor gescheitert, der eine Wiedereinführung der Abgabe von Taschenmunition gefordert hatte. Jetzt versucht es die Partei erneut. Der Nationalrat Walter Gartmann und der Ständerat Werner Salzmann bestätigen auf Anfrage, dass sie in der nächsten Session je eine entsprechende Motion einreichen wollen.

Diesmal erhält die SVP Schützenhilfe. Der Verband Militärischer Gesellschaften Schweiz (VMG) und der Schweizer Schiesssportverband (SSV) gaben bekannt, dass sie die Motionen unterstützen werden.

Es geht um mehr als nur Nostalgie: Als Hauptgrund wird die verschlechterte Sicherheitslage auf der Welt genannt, die Gefahr einer Ausweitung des Krieges in Europa. Doch rechtfertigt die schlechte Sicherheitslage, dass 140 000 Schweizerinnen und Schweizern je zwanzig Schuss mit nach Hause gegeben werden, mitsamt den damit verbundenen Risiken?

Für einmal lieber zu früh als zu spät

«Russland wird spätestens ab 2027 die Möglichkeit haben, weitere europäische Länder anzugreifen. Davon gehen Armee und Nachrichtendienste aus», sagt Werner Salzmann. Die Schweiz müsse auf diese Situation vorbereitet sein, weshalb gehandelt werden müsse, bevor es zu spät sei. Die Taschenmunition erfülle besonders einen Zweck: Soldaten könnten schnell für eventuelle Einsätze mobilisiert werden. Als Beispiel nennt Salzmann einen gross angelegten Terroranschlag.

Zudem sieht er darin ein Mittel, um den Wehrwillen zu stärken: «Wenn die Soldaten am Ende eines Dienstes zwanzig Schuss in die Hand gedrückt bekommen, ist das ein Zeichen an die ganze Schweiz, das den Ernst der sicherheitspolitischen Lage unterstreicht.»

Sein Parteikollege Gartmann argumentiert ähnlich. Ebenso der Präsident des VMG, Stefan Holenstein. Die Taschenmunition würde nicht nur die Bereitschaft der Armee erhöhen, sondern auch dissuasiv, also abschreckend auf potenzielle Aggressoren wirken. Dass jetzt der ideale Zeitpunkt zum Handeln sei, habe für die Verfechter auch mit einem Versprechen des Bundesrates zu tun, das dieser abgegeben habe, als er die Munition eingezogen habe.

Sistierung wegen Suiziden und Tötungsdelikten

Noch 2007 stimmten bürgerliche Politiker einer Rücknahme der Taschenmunition zu. Es war ein Kompromiss: Sie wollten damit verhindern, dass die Dienstwaffe komplett aus den Wohnungen verbannt wird. Linke Parlamentarierinnen und Parlamentarier wollten Waffen und Munition aus Stuben und Schlafzimmern verbannen, um die «häusliche und öffentliche Sicherheit» zu verbessern. Auslöser waren Tötungsdelikte und Suizide mit Armeewaffen. Die Sicherheitspolitische Kommission des Ständerats beauftragte den Bundesrat, in der damaligen «sicherheitspolitischen Lage» auf die Abgabe von Taschenmunition zur Aufbewahrung zu Hause zu verzichten.

Der Bundesrat versprach damals, die sicherheitspolitische Lage regelmässig zu überprüfen und notfalls die Taschenmunition wieder herauszugeben.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 erinnerte Addor an dieses Versprechen. Der Bundesrat lehnte jedoch ab. Er entgegnete, dass die Armee über eine abgestufte Bereitschaft verfüge, also mit Munition ausgerüstete Verbände ganzjährig im Dienst stünden. Diese könnten im Ernstfall sofort eingesetzt werden. Zusätzliche Verbände liessen sich bei Bedarf mobilisieren und rasch ausrüsten.

Da sich die Sicherheitslage seither verschlechtert hat, versuchen es Gartmann und Salzmann nun erneut.

Sicherheit des Staates wichtiger als Schutz des Einzelnen

Das Risiko von erneuten Tötungsdelikten oder Suiziden mit Armeewaffen ist für sie zweitrangig. Gartmann und Salzmann verweisen darauf, dass ihnen keine konkreten Vorfälle bekannt seien, bei denen Dienstwaffe und Taschenmunition zum Mord oder Selbstmord eingesetzt worden seien. Zudem überprüfe die Armee Stellungspflichtige bei der Rekrutierung und biete in Risikofällen einen waffenlosen Dienst an. Ähnlich klingt es beim Präsidenten des VMG.

«Das erhöhte Suizidrisiko müssen wir hinnehmen, denn es besteht ein übergeordnetes Interesse und Bedürfnis der Gesellschaft nach mehr Sicherheit», sagt Holenstein. Jeder Suizid sei einer zu viel, aber die Soldaten seien verantwortungsbewusste Bürger und im Umgang mit ihrer Waffe geschult. Die Abgabe der Munition sei auch ein Vertrauensbeweis vom Staat an seine Bürger.

Die Frage, ob mehr Waffen und Munition zu mehr Todesfällen führen, ist umstritten. Das Bundesamt für Statistik dokumentiert zwar, wie viele Suizide jährlich mit Schusswaffen begangen werden. Welche Art von Waffen dabei eingesetzt wurden – Armeewaffen oder private, legal oder illegal erworbene – weist die Statistik aber nicht aus.

Waffen und Munition daheim als erhebliches Risiko

Die Forschung hat sich in den letzten Jahren intensiv mit der Frage auseinandergesetzt. «Wenn Waffe und Munition zu Hause verfügbar sind, wo private Tötungen und Suizide am häufigsten geschehen, ist das ein erhebliches Risiko», sagt der emeritierte Kriminologe Martin Killias. Er untersuchte mehrfach den Zusammenhang zwischen Waffen und Tötungsdelikten oder Suiziden. In einer Studie aus dem Jahr 2009, die den Zeitraum von 1980 bis 2004 betrachtete, kamen er und seine Mitautorinnen zu dem Schluss, dass rund 52 Prozent aller Schusswaffensuizide mit Armeewaffen begangen worden sind. Während der Debatte zur Abschaffung der Taschenmunition sprach er von 300 Todesfällen durch Armeewaffen pro Jahr.

Nora Markwalder, Strafrechtsprofessorin an der Universität St. Gallen, veröffentlichte im Februar eine Studie zu Tötungsdelikten mit Schusswaffen im häuslichen Bereich. Darin stellte sie fest, dass die meisten Täter ältere Schweizer Männer seien, die erst ihre Frauen und danach sich selbst erschossen hätten. Die Herkunft der Tatwaffe sei in vielen Fällen zwar nicht bekannt. Dort, wo die Waffe habe identifiziert werden können, seien aber mehrheitlich Armeewaffen eingesetzt worden. Eine Erklärung für dieses Phänomen sei, dass Armeeangehörige früher viel häufiger ihre Waffen nach Ende des Dienstes behielten als heute.

Markwalder sieht die Abgabe von Taschenmunition deshalb kritisch: «Diese Forderung widerspricht den allgemeinen Bemühungen, häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen zu verhindern.»

Killias seinerseits erkennt auch keinen militärischen Nutzen in der Taschenmunition: «Dass Russland in absehbarer Zeit einen strategischen Überfall auf die Schweiz plant, ist für mich realitätsfern. Wir sind in einer ganz anderen Lage als Polen und das Baltikum.»

Die beiden SVP-Politiker sehen das anders, allein schon aus zeitlichen Überlegungen. Sollten ihre Motionen in den Räten angenommen werden, rechnen sie frühestens ab Anfang 2027 mit einer Abgabe der Taschenmunition. Dass die Welt dann wieder sicherer sei, sei zwar zu hoffen, aber unwahrscheinlich, sagt Salzmann. Er ist optimistisch, dass das Anliegen diesmal in den Räten durchkommt. 2023 hatten nur SVP-Parlamentarier dafür gestimmt. Jetzt hofft die Partei auf die FDP und die Mitte.

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