In der südtürkischen Millionenstadt Gaziantep stammt jeder fünfte Bewohner aus Syrien. Sie wurden nach Beginn des Bürgerkriegs warmherzig aufgenommen. Doch die Stimmung hat sich gewendet.
Yasir al-Shayib umarmt seine Cousins und drückt ihnen einen letzten Kuss auf die Wange. Dann gehen die beiden jungen Männer durch das Grenztor am türkischen Übergang Öncüpinar Richtung Syrien.
Wiedersehen werden sich die Vettern so schnell nicht. Wie fast alle Syrer, die nun aus der Türkei in ihre alte Heimat zurückkehren, müssen Shayibs Verwandte ihre Aufenthaltspapiere an der Grenze abgeben. Der Weg zurück ins einstige Gastland ist damit verschlossen.
«Purer Leichtsinn»
«Sie denken mit ihrem Herzen», sagt Shayib. «Ich verstehe das.» Ihr Vater, sein Onkel, sei vor Jahren ins berüchtigte Saidnaya-Gefängnis bei Damaskus eingeliefert worden. Seither habe niemand mehr etwas von ihm gehört. «Sie wollen Gewissheit. Das ist wichtiger als alles andere.»
Für ihn komme das aber nicht infrage, sagt Shayib und schüttelt entschieden den Kopf. «Ich habe ein Geschäft in Gaziantep, meine Kinder gehen dort zur Schule. Jetzt alles aufzugeben und im Winter in ein zerstörtes Land zurückzukehren, wäre doch purer Leichtsinn.»
Ob er sich im Frühling eine Rückkehr vorstellen könne, lässt der Mittdreissiger offen. «Bakalim», sagt er auf Türkisch, das er in dreizehn Jahren im Land fliessend gelernt hat. Wir werden sehen.
20 Prozent der Bevölkerung
Die syrischen Flüchtlinge sind seit Jahren eines der wichtigsten innenpolitischen Themen in der Türkei. Seitdem der Diktator Asad und mit ihm der grösste Hinderungsgrund für eine Rückkehr verschwunden ist, gilt das erst recht. Kein Land hat mehr Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen als die Türkei: 3,6 Millionen sind es laut offiziellen Angaben. Viele vermuten, dass in Wirklichkeit aber noch deutlich mehr Syrer im Land leben.
Nirgends haben diese die Türkei stärker geprägt als im Grossraum Gaziantep. Die Millionenstadt, einer jener «anatolischen Tiger», die nach der Jahrtausendwende stark boomten, liegt nur eine Stunde Autofahrt durch grüne Olivenfelder und einige staubige Siedlungen von Öncüpinar entfernt. Und von dort sind es knapp 50 Kilometer zur nordsyrischen Metropole Aleppo, von wo die meisten Flüchtlinge in die Türkei kamen.
Heute stammen etwa 20 Prozent der 2,5 Millionen Bewohner Gazianteps aus Syrien. Im Umland ist der Anteil mancherorts noch höher. Arabisch ist überall zu hören, viele Geschäfte sind zweisprachig angeschrieben. In manchen Schulklassen sind syrische Kinder in der Überzahl. Viele Türken stören sich daran.
Verschärfte Ausländerpolitik
Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan hatte an die muslimische Solidarität seiner Landsleute appelliert, als er die Flüchtlinge nach Ausbruch des Bürgerkriegs ins Land liess. Anfangs wurden die Gäste durchaus warmherzig aufgenommen. Diese Leistung der Türkei, die bei einer vergleichbaren Bevölkerungszahl wie Deutschland eine viel grössere Zahl an Schutzbedürftigen aufnahm, wurde im Westen immer unterschätzt.
Doch spätestens mit dem Einsetzen der seit sechs Jahren herrschenden Wirtschaftskrise kippte die Stimmung. Schon vor Asads Sturz hätten 89 Prozent aller Türken eine Rückkehr der Syrer befürwortet, erklärt der Migrationsforscher Murat Erdogan. Auch unter Erdogans religiös-konservativen Kernwählern teilten vier von fünf diese Ansicht.
Bereits seit einigen Jahren verfolgt die Regierung deshalb einen deutlich restriktiveren Kurs gegenüber Ausländern. Mobile Einsatzteams des Migrationsamts fahren durch Stadtteile mit hohem Ausländeranteil und machen Stichproben. Wer keine gültige Aufenthaltsbewilligung hat, kommt in Ausschaffungshaft und sitzt mitunter schon 72 Stunden später im Flugzeug nach Hause. Das betrifft nicht nur Syrer oder Afghanen, sondern etwa auch die vielen philippinischen Hausangestellten im Land. Trotzdem dreht sich die Ausländerdebatte vor allem um die Syrer.
«Sie sollen gehen, meinetwegen nicht sofort, aber möglichst bald», sagt Mehmet Gündüz, der am Basar Fussballtrikots verkauft. Gaziantep ist bekannt für seine Textilindustrie. Einige Firmen stellen Nachahmungen von Leibchen berühmter Vereine her.
Türken und Araber seien keine Brüder, wie der Präsident immer behauptet habe, sagt Gündüz mit Nachdruck. Der kulturelle Unterschied sei gross. «Die Syrer kaufen bei Syrern, die Türken bei Türken. Wir leben aneinander vorbei.»
Billige Arbeitskräfte für die Industrie
Niemand kann bestreiten, dass sich Parallelgesellschaften gebildet haben, auch weil das Thema Integration nie Priorität genoss. Dennoch ist die Realität komplexer, als sie der Händler Gündüz darstellt, besonders in Gaziantep.
Salih Torun besitzt ein Unternehmen im Industriegebiet, das Textilien für den Heimgebrauch herstellt: Vorhänge, Handtücher, Zierdecken. Unter seinen 25 Angestellten sind Türken und Syrer. «Wir haben doch jetzt schon Schwierigkeiten, Arbeiter zu finden. Wenn die Syrer gehen, haben wir ein Problem», sagt der Unternehmer. Dabei geht es nicht nur um den Mangel an Arbeitskräften, sondern auch um die Kosten.
Schätzungsweise 150 000 Syrerinnen und Syrer arbeiten in den Werkstätten und auf den Baustellen von Gaziantep. Wirtschaftlich fand durchaus eine Integration statt, wenn auch meist zu prekären Bedingungen. Praktisch alle Syrer in der Türkei sind schwarz angestellt. Sie erhalten weniger Lohn und sind nicht sozialversichert. Auch Kinderarbeit ist in den Nähstuben von Gaziantep keine Seltenheit.
Für die Unternehmen sind die ausbeuterischen Bedingungen attraktiv. «Die Arbeitgeber wollen, dass sie bleiben. Die Arbeitnehmer wollen, dass sie gehen», sagt der Textilfabrikant Torun lapidar. Er selber habe bei den Anstellungsbedingungen aber nie zwischen Syrern und Türken unterschieden.
Türkei profitiert von einem stabilen Syrien
Die Bedeutung der syrischen Arbeitskräfte erkennt auch der Industrieverband von Gaziantep an. In einer Stellungnahme spricht der Präsident von Anpassungsschwierigkeiten, die sich durch die Rückkehr ergäben. Langfristig biete die neue Situation im Nachbarland aber auch viele Möglichkeiten.
Das ist unbestreitbar – sofern es gelingt, Syrien zu stabilisieren. Die grosse türkische Bauindustrie ist prädestiniert dafür, beim Wiederaufbau des zerstörten Landes eine zentrale Rolle zu spielen. Und auch für die Textilindustrie gibt es Perspektiven, etwa durch die Eröffnung von Produktionsstätten in Nordsyrien.
Laut den meisten Beobachtern dürfte die stets von Pragmatismus geleitete türkische Regierung im Umgang mit dem Flüchtlingsthema auf diese Strategie setzen: durch Investitionen Bedingungen schaffen, die Anreize zur Rückkehr bieten und gleichzeitig die heimische Wirtschaft stützen. Das Geld dafür dürfte dabei auch aus dem Westen kommen. Dass all dies Zeit braucht, ist offensichtlich.
Zurzeit gehen fast nur junge Männer
Fast alle Syrer in Gaziantep dächten zumindest über die Möglichkeit der Rückkehr nach, sagt Kemal Vural Tarlan. Der ehemalige Journalist hat die Organisation Kirkayak gegründet, die seit mehr als einem Jahrzehnt mit syrischen Flüchtlingen in Gaziantep arbeitet.
Wie viele den Schritt tatsächlich wagten, sei aber schwer abzuschätzen, sagt Tarlan. Zurzeit gingen fast nur junge Männer, von denen viele Verbindungen zu den siegreichen Rebellen hätten. «Für alle anderen ist das Risiko gross. Ein substanzieller Teil wird sicherlich versuchen zu bleiben.»
Der Aktivist Tarlan stört sich an der Verengung aufs Ökonomische in der türkischen Debatte. «Das sind individuelle Schicksale. Ausserdem sollten wir uns bewusst machen, dass die Syrer in den vergangenen Jahren Teil unseres Lebens waren und dieses mitgeprägt haben.»
Anknüpfung an multiethnische Vergangenheit
Gaziantep etwa habe etwas von seiner heterogenen Identität zurückgewonnen, die für die längste Zeit prägend für die Stadt an der Handelsroute zwischen Anatolien und der Levante gewesen sei. Die berühmte Küche sei auch deshalb so besonders.
Tatsächlich waren zu osmanischer Zeit die Türken in Gaziantep nur eine Volksgruppe unter vielen. Es gab armenische, jüdische, kurdische Gemeinden. «Als ab 2011 plötzlich überall Arabisch zu hören war, sprachen auch die Kurden in der Öffentlichkeit wieder vermehrt ihre Sprache. Ich finde das gut.»
Ausserdem hätten die Syrer die Altstadt wiederbelebt. Nach der Jahrtausendwende zogen immer mehr Bewohner in die modernen Wohnanlagen am Stadtrand, während sich das historische Zentrum allmählich entvölkerte und verfiel. Erst der Zuzug der Syrer hat den Trend umgekehrt. «Auch das gehört zum Flüchtlingsthema dazu.»
Die Syrer haben die Türkei verändert. Ihre Rückkehr wird es auch tun.

