Dienstag, Oktober 8

Ein Amerikaner investiert in Kryptowährungen – und sieht sein Geld nie mehr. Eine Vietnamesin nimmt einen verlockenden IT-Job in Thailand an und endet in einem Arbeitslager in Myanmar. Beide sind Opfer des Systems der «Schweineschlachtung», das in Südostasien blüht.

Brian Bruce hält inne, seine Augen verengen sich. Der Blick ist eiskalt, als er sagt: «Die sollen in der Hölle 100-mal schlimmere Qualen erfahren, als ihre Opfer auf Erden durchmachen mussten.»

Bruce, leger gekleidet und kurz geschnittenes Haar, sitzt in einer Hotel-Lounge in Bangkok. Der Amerikaner kommt regelmässig nach Thailand, um Behörden und Nichtregierungsorganisationen beim Kampf gegen «die» zu unterstützen: kriminelle Banden, die ihre Opfer im Internet um Geld betrügen.

Auch Bruce ging ihnen auf den Leim. Im August 2021 wurde er auf der Plattform Linkedin von einem Betrüger, der sich als Investor ausgab, kontaktiert. Bruce hatte auf dem Business-Netzwerk viel über sich preisgegeben. Das virtuelle Gegenüber nutzte diese Informationen, um Vertrauen aufzubauen. Es schlug ihm Investitionen in Kryptowährungen vor – Neuland für den eigentlich erfahrenen Investor Bruce. Er zog seinen Nachbarn zu Rate, der sich damit auskannte. Dieser hielt das Angebot für seriös.

189 000 Dollar verloren

Der Nachbar investierte selbst 20 000 Dollar und zog sie mit einer Rendite von 10 Prozent rechtzeitig ab. Bruce aber gab sich mit dem Gewinn nicht zufrieden, schoss nach, bis bei einer Investition von 189 000 Dollar die Falle zuschnappte. Die Betrüger kappten den Kontakt, und sein Geld war in einem ausgeklügelten System von Blockchain-Verbindungen verschwunden.

Bruce war Opfer eines «pig-butchering scam», einer Schweineschlachtung, geworden. Die Betrüger warten, bis ihre «Schweine» genug investiert haben, damit sich die «Schlachtung» lohnt. Diese Art von Betrug wurde erstmals 2018 in China angewandt und boomt seit der Covid-Pandemie.

Corona zerstörte das traditionelle Glücksspielgeschäft, das in den südlichen Nachbarländern Chinas in Sonderwirtschaftszonen blüht. Chinesische Investoren bauten in Kambodscha, Laos und Myanmar Kasinos, aber auch Apartments, Hotels, Kinos, Restaurants und Spitäler, die auf das chinesische Publikum abzielen. Glücksspiel ist in China verboten.

Weil wegen der Pandemie die Gäste ausblieben, brauchten die Betreiber neue Einkommensquellen – und investierten in den Online-Betrug. Durch «pig-butchering scam» werden weltweit laut Schätzungen des United States Institute of Peace jährlich Schäden von rund 64 Milliarden Dollar verursacht. Die Opfer sind weltweit verstreut. Wohlhabende amerikanische Rentner sind ein besonders beliebtes Ziel der Kriminellen. Sie sollen allein im vergangenen Jahr mindestens 3,5 Milliarden Dollar verloren haben. Manche seien um ihr gesamtes Vermögen gebracht worden und hätten sich das Leben genommen, sagt Bruce.

Bruce hat dank der Auswertung von Geodaten herausgefunden, wo sein betrügerisches Gegenüber sass: im Südosten von Myanmar. Der «KK Park» liegt im Gliedstaat Kayin, direkt am Grenzfluss Moei. Auf der anderen Seite liegt Thailand.

Um die Mittagszeit spielen Kinder im Wasser, Männer angeln. Das Areal sieht auf den ersten Blick aus wie eine deutsche Vorortsiedlung mit Mehrfamilienhäusern, die auf der grünen Wiese aus dem Boden gestampft worden ist. Die vierstöckigen Wohnblöcke sind grau verputzt. Auf den Balkonen hängt Wäsche. Gardinen verdecken den Blick in die Wohnungen. Und der «KK Park» wächst weiter. Kräne schwenken Baumaterial, Neubauten sind eingerüstet.

Umgeben ist der «KK Park» von drei Meter hohen Mauern mit Stacheldraht. «Es scheint, als ob die Mauern die Bewohner vor der Aussenwelt schützen. Aber der Eindruck täuscht. Sie hindern die Menschen, die für die Verbrechersyndikate arbeiten müssen, aus dem ‹KK Park› zu fliehen», sagt Judah Tana.

Der Australier lebt seit Jahren in dem myanmarisch-thailändischen Grenzgebiet und hilft mit der Nichtregierungsorganisation Global Advance Projects Foundation Menschen in Not. Sie ist eine Anlaufstelle, um Menschen, die gegen ihren Willen in Lagern wie dem «KK Park» festgehalten werden, nach Thailand zu bringen. Tana bringt seinen Wagen zum Stehen. Der «KK Park» ist nur 200 Meter entfernt, auf der anderen Seite des Flusses Moei. Der Motor läuft während des Stopps. Tana will sich nicht zu lange hier aufhalten, um keinen Verdacht zu erwecken.

Die Gegend wird von den Karen Border Guard Forces kontrolliert. Die Miliz arbeitet mit Myanmars Militärjunta zusammen, die seit dem Putsch am 1. Februar 2021 Krieg gegen das eigene Volk führt. Im Gegenzug für die Kooperation darf die Miliz in der von ihr kontrollierten Region tun, was sie will. Diese Freiheiten nutzt sie weidlich. Ihr werden schwere Menschenrechtsverletzungen und die Beteiligung am organisierten Verbrechen vorgeworfen.

Rund 40 Kilometer nördlich vom «KK Park» betreibt die Miliz das Areal «Shwe Kokko». Chinesische Investoren wollten dort einst eine Tech-Hochburg bauen; aber heute gibt es dort vor allem alles, was in China verboten ist: Glücksspiel, Prostitution und seltene Tiere auf dem Teller. Die Miliz verdient mit und liefert einen Teil der Einnahmen an die Junta ab. Allein in «Shwe Kokko» soll sie jährlich annähernd 200 Millionen Dollar erwirtschaften.

Im «KK Park» sollen bis zu 12 000 Personen festgehalten werden und für Verbrechersyndikate arbeiten müssen. In Kambodscha, Laos und Myanmar sind es laut Schätzungen des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte mindestens 300 000 Menschen. Sie sollen aus mehr als 60 Nationen stammen.

Ein verlockendes Jobangebot auf Facebook

Die Vietnamesin Nguyen Thi Thuy war bis vor kurzem eine von ihnen. Sie war etwas mehr als einen Monat hinter den Mauern des «KK Park» gefangen. Nun sitzt die 35-Jährige in einem «safe house» in Bangkok. Sie ist wortkarg. Als sie dann doch ihre Geschichte erzählt, hält sie immer wieder inne und kämpft mit den Tränen.

Sie arbeitete in einer Textilfabrik in Hanoi, als sie auf Facebook auf eine Annonce für einen IT-Job in Thailand stiess. 38 Millionen Dong, rund 1340 Franken, wurden versprochen – mehr als dreimal so viel wie in ihrer Heimat, ein verlockendes Angebot.

Die Online-Interviews mit der Agentur, die die Stellenanzeige auf Facebook geschaltet hatte, verliefen gut. Thuy bekam den Job, flog nach Bangkok. Dort musste sie ihren Reisepass abgeben, weil sie angeblich ein Arbeitsvisum für Thailand erhalten sollte. «Zu Beginn war die Behandlung gut, alles war professionell. Ich hegte kein Misstrauen», sagt Thuy.

Von Bangkok aus ging es in den Grenzort Mae Sot. Der Aufenthalt war nur kurz. Mitten in der Nacht wurde sie schlaftrunken in ein Auto gezerrt. Der nächste Stopp war der Grenzfluss Moei. Thuy musste in ein Boot steigen und den Fluss queren. «Als ich auf der gegenüberliegenden Seite myanmarische Soldaten mit Gewehren sah, war mir klar, dass ich in eine Falle geraten war.»

Sich online verlieben in drei Schritten

Im «KK Park» wurde Thuy zunächst eine Woche lang in die psychologische Kriegsführung eingearbeitet. Sie musste lernen, wie man virtuell Liebe zu Vietnamesen, die in Amerika, Europa oder in ihrer Heimat leben, aufbaut. Dafür haben die Kriminellen ausgeklügelte Ratgeber entwickelt. Im Blick haben sie wohlhabende Männer, die einsam sind.

Das Drehbuch für das Online-Verlieben in drei Schritten, das Thuy lernen musste, geht so: Zuerst musste sie Vertrauen aufbauen. «Kontaktiere jemanden mit deinem Fake-Account auf Facebook, frage ihn, ob er am Wochenende auch zur Party geht. Wenn er dann antwortet, es müsse sich um einen Irrtum handeln, entschuldige dich, hake aber nach. Erfahre mehr über ihn», ist in dem Handbuch zu lesen.

Hatte Thuy eine Vertrauensbasis geschaffen, betrat sie die emotionale Ebene. Sie verschickte Fotos und Sprachnachrichten, damit das Opfer den Eindruck gewann, dass das Interesse auf Gegenseitigkeit beruht. Dann musste sie dem virtuellen Gegenüber einen Kosenamen wie Darling geben, bevor sie über eine gemeinsame Zukunft redeten: «Willst du Kinder, was für ein Haus wünschst du dir?»

Erst im letzten Schritt wurde über Finanzielles geredet. Das «Paar» braucht Geld, um die Zukunft zu gestalten. Thuy zeigte Bilder von ihrem vermeintlichen Reichtum, den sie mit Investitionen in Kryptowährungen verdient haben wollte. Verliebte lassen sich offenbar leicht von solchen Vorschlägen überzeugen und investieren.

Menschenhandel im 21. Jahrhundert

Thuy arbeitete 17 Stunden pro Tag. Ihren Opfern heuchelte sie vor, in Amerika zu leben. «Ich brauchte vier, fünf Tage, bis ich online liiert war.» Sie profitierte davon, dass sich Paare heute oft online finden.

Der Druck in den Lagern sei immens gewesen, sagt Thuy. Sie sind hierarchisch gegliedert. Jede Ebene gibt den Druck nach unten weiter. Ganz unten sitzen jene wie Thuy, die klare Ziele erfüllen müssen. Machen sie einen guten Job, verdienen sie deutlich mehr als in der Heimat. Versagen sie jedoch, werden sie bestraft. Thuy wurde zwar nie malträtiert. Sie sah jedoch, was mit Kollegen geschah, die die Ziele nicht erreichten.

Ihnen wurden zunächst Nahrung und Schaf entzogen. Erreichten sie die Vorgaben immer noch nicht, wurden sie psychisch und physisch gequält, an Stühle gefesselt, geschlagen, mit Elektroschocks gefoltert. Thuy sah, wie ein Mitglied ihres Teams spitalreif geprügelt wurde. Die Behandlung musste das Opfer selbst zahlen.

Thuy durfte das Lager nie verlassen. Die Mauern mit Stacheldraht versperrten ihr die Flucht. Wer es nicht mehr aushält, muss Wächter bestechen und fliehen oder sich freikaufen. Mehr als 30 000 Dollar soll die Ablösesumme inzwischen betragen. Manche Arbeiter sollen sich Organe entnehmen lassen, um das Lager verlassen zu dürfen.

Täter und Opfer in einem

Im Vergleich zu solchen Fällen hatte Thuy geradezu Glück. Das Verbrechersyndikat war mit ihrem Team unzufrieden und verkaufte es an eine kriminelle Bande in Kambodscha – Menschenhandel im 21. Jahrhundert.

Von Mae Sot sollte es über Bangkok nach Phnom Penh gehen. Auf dem Flughafen in Mae Sot wandte sich Thuy an die Polizei. Dank ihrem noch gültigen Visum liessen die thailändischen Behörden sie laufen. Eine Nichtregierungsorganisation brachte sie in das «safe house» in Bangkok, wo sie nun auf den Rückflug nach Hanoi wartet.

Thuy wirkt nach etwas mehr als einem Monat in Myanmar gebrochen. Sie weiss, dass sie Opfer und Täterin zugleich ist. Fragen nach den Menschen, die sie betrogen hat, blockt sie ab.

Brian Bruce hat durch seinen Geldverlust viel durchgemacht. Er fühlte sich schlapp, konnte keinen klaren Gedanken fassen. «Zunächst habe ich mich mehrere Wochen krank gefühlt. Ich dachte, ich hätte Corona», sagt Bruce. Inzwischen spricht er gefasst über seine Erfahrungen und gibt zu, dass er Anzeichen für Betrug ignoriert hatte. Die Gier nach dem schnellen Geld war zu gross gewesen.

Anderen soll es nicht so ergehen wie ihm, deshalb hilft er nicht nur den thailändischen Behörden, sondern engagiert sich nun auch für Nichtregierungsorganisationen, die die Machenschaften der Banden und deren Chefs aufdecken. Dabei handelt es sich meist um Chinesen, die in ihrer Heimat wegen ihrer Verbrechen gesucht werden.

Auch wenn er inzwischen weiss, dass es Menschen gibt, die zu diesem Job gezwungen werden: Vergeben kann Bruce nicht. «Natürlich werden in den Lagern auch Menschen gegen ihren Willen festgehalten und gefoltert. Aber die Betrüger, mit denen ich gesprochen habe, zeigten keine Reue. Sie verdienen mehr als in ihrer Heimat und geniessen im Sinne von ‹sex, drugs and rock’n’roll› das Leben.» Er kämpft dafür, dass die Betrüger eines Tages dafür büssen und hart bestraft werden.

Abschied von Südostasien

pra. · Mit diesem Artikel nimmt Matthias Müller Abschied von seinem Korrespondentenposten in Südostasien. Mue. berichtete seit 2022 von Singapur aus und auf vielen Reisen über die Region. Davor war er neun Jahre lang als Auslandkorrespondent in Peking stationiert und berichtete über Wirtschaft und Politik Chinas. Matthias Müller verlässt die NZZ, wird aber vereinzelt noch als Autor anzutreffen sein. Sein Posten wird von Andreas Babst übernommen, der von Delhi nach Bangkok wechselt; in der thailändischen Metropole wird künftig der Sitz des Südostasien-Korrespondenten der NZZ sein. Andreas Babst wiederum wird in Indien als Südasien-Korrespondent von unserem bisherigen Nahost-Redaktor  Ulrich von Schwerin abgelöst.

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