Die Zentralregierung in Delhi beharrt darauf, dass alle Teilstaaten an den Schulen drei Sprachen anbieten. Die Südinder sehen darin einen Versuch, ihnen Hindi aufzuzwingen.

In welcher Sprache sollen die Bürger eines Landes kommunizieren, wenn sie nicht alle die gleiche Muttersprache sprechen? Sollen alle dafür die Sprachen der jeweils anderen Sprachgruppen lernen? Oder lieber die Sprache der Mehrheit verwenden? Oder ist es fairer, wenn Englisch als Lingua franca benutzt wird? Diese Fragen sind brisant, wie man in der Schweiz aus eigener Erfahrung weiss. In Indien ist die Ausgangslage noch etwas komplizierter. Denn in dem 1,4-Milliarden-Einwohner-Land gibt es nicht 4, sondern 22 anerkannte Sprachen.

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Die Frage, ob Hindi als Verkehrssprache besonders gefördert werden soll, führt seit Wochen zu heftigem Streit. Im Parlament musste am Montag die Sitzung unterbrochen werden, weil Abgeordnete aus Südindien aus Protest gegen Äusserungen des Bildungsministers zum Hindi-Unterricht das Podium blockierten. Die Südinder werfen der Zentralregierung vor, ihnen Hindi aufzwingen zu wollen. An der Spitze des Protests steht M. K. Stalin, der Chefminister von Tamil Nadu.

Der Hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi wirft Stalin Chauvinismus vor und beschuldigt sie, die Nicht-Hindi-Sprecher als Bürger zweiter Klasse zu behandeln. «Von den Südindern wird gefordert, dass sie Hindi lernen, doch wird auch in Nordindien der Unterricht in Tamil gefördert?», fragte Stalin. Würde in Nordindien richtig Englisch unterrichtet, gäbe es auch keinen Bedarf für eine andere Verkehrssprache.

Die Südinder wollen Hindi nicht als alleinige Landessprache

Hindi ist zwar die am weitesten verbreitete Sprache in Indien, wird aber ausserhalb des sogenannten Hindi-Gürtels im Zentrum und im Norden des Landes nur als Zweitsprache gesprochen. Zwar ist Hindi neben Englisch die offizielle Landessprache. Doch gibt es dazu zwanzig weitere Sprachen, die zusätzlich auf regionaler Ebene als Amtssprache anerkannt sind. In Tamil Nadu ist es Tamil, in Westbengalen Bengali, in Kerala Malayalam. Bisher sind alle Versuche der Hindu-Nationalisten, Hindi als alleinige Nationalsprache durchzusetzen, gescheitert.

Dies liegt ganz wesentlich am Widerstand der Nicht-Hindi-Sprecher in Südindien. Besonders die Tamilen wehren sich gegen die Einstufung von Hindi als alleiniger Landessprache. Sie sind stolz auf ihre eigene Sprache und fürchten um ihre kulturelle Eigenständigkeit. Schon in den sechziger Jahren gab es heftige Proteste gegen Hindi. Wie die letzten Wochen gezeigt haben, stösst auch heute jeder Versuch zur Förderung von Hindi in Tamil Nadu auf empörten Widerstand.

Der Auslöser des jüngsten Sprachenstreits war eine Anweisung des Bildungsministeriums in Delhi, die Auszahlung von Fördermitteln davon abhängig zu machen, ob die Teilstaaten die Drei-Sprachen-Formel umsetzen. Diese Formel bestimmt seit den sechziger Jahren das Bildungswesen und sieht vor, dass an allen Schulen mindestens drei Sprachen angeboten werden. In der Regel sind das Hindi oder die jeweilige Regionalsprache sowie Englisch und eine weitere indische Sprache.

Die Tamilen fürchten um ihren Einfluss auf nationaler Ebene

Tamil Nadu weigert sich jedoch seit Jahrzehnten, an den Schulen neben Tamil und Englisch auch Hindi zu lehren. In der neuen Anweisung aus Delhi sieht die regierende Dravida Munnetra Kazhagam (DMK) von Chefminister Stalin einen Versuch, die Verbreitung von Hindi zu fördern. Der Bildungsminister Dharmendra Pradhan habe einen Streit neu entfacht, den er nicht gewinnen könne, sagte Stalin am Freitag drohend. Niemals würden die Tamilen ein Diktat aus Delhi akzeptieren.

Die BJP betont dagegen, dass es Tamil Nadu und den anderen Teilstaaten überlassen bleibe, was sie als dritte Sprache unterrichten wollten. Niemand verlange, dass dies Hindi sei. Pradhan warf Stalin und seiner Partei am Montag vor, unehrlich zu sein und das Thema zur politischen Profilierung zu missbrauchen. Indem er den Schülern in Tamil Nadu die Möglichkeit verwehre, eine dritte Sprache zu lernen, bringe Stalin sie um ihre Zukunft, sagte der Bildungsminister im Parlament.

Hinter dem Sprachenstreit steht die Sorge der Tamilen und anderer Südinder, auf nationaler Ebene an Einfluss zu verlieren. Sie fürchten, dass sie Sitze im Parlament abgeben müssen, wenn nach dem nächsten Zensus die Wahlkreise angepasst werden. Denn dank einer erfolgreichen Familienplanungspolitik ist die Bevölkerung in Südindien weniger stark gewachsen als im Norden. Entsprechend kann der Norden Anspruch auf mehr Sitze im Parlament in Delhi erheben.

Die Südinder fordern, dass sie bei der Neuziehung der Wahlkreise nicht für ihre Erfolge bei der Eindämmung des Bevölkerungswachstums bestraft werden. Tamil Nadus Regierungschef Stalin hat Premierminister Modi aufgerufen, die bisherigen Regeln zur Sitzverteilung für weitere dreissig Jahre beizubehalten und die Verfassung entsprechend anzupassen. Mit Ausnahme der BJP haben sich alle Parteien in Tamil Nadu hinter diese Forderung gestellt. Der Graben zum hindisprachigen Norden dürfte sich in Zukunft nur noch weiter vertiefen.

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