Mittwoch, März 19

An der Spitze des Israelitischen Gemeindebundes kommt es zur grossen Rochade. Der bisherige Präsident hatte viel mehr zu tun, als er gedacht hat.

Seit dem 7. Oktober steht Ralph Lewin mitten in einem Sturm. So beschrieb es der scheidende Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) in einem Gespräch mit der NZZ im November. Der Terrorangriff der Hamas auf israelische Zivilisten im letzten Herbst hat Lewin erschüttert. Es fiel ihm noch Wochen später schwer, über das Grauen zu sprechen.

Beruhigt hat sich die Situation für ihn und für die Schweizer Jüdinnen und Juden in letzter Zeit nicht – im Gegenteil. Die Zahl der antisemitischen Übergriffe ist stark angestiegen, im März gab es sogar einen Mordanschlag auf einen Juden in Zürich. Viele getrauen sich nicht mehr mit Kippa oder Davidstern auf die Strasse. Und der Feldzug der israelischen Armee gegen die Hamas mit all den Toten und den Verwüstungen im Gazastreifen löst eine Empörung aus, die viele den Auslöser der Offensive vergessen lässt.

Die propalästinensischen Manifestationen haben in den letzten Wochen mit den Uni-Besetzungen in zahlreichen Städten eine neue Dimension erreicht. Kritik an der israelischen Politik vermischt sich zunehmend mit offener Judenfeindlichkeit. Linksextreme wünschen sich, dass Israel von der Landkarte getilgt wird, und fordern ein Palästina, das sich vom Mittelmeer bis zum Jordan erstreckt.

Ein Déjà-vu für Lewin

Ralph Lewin hat die Wucht der Proteste an den Bildungsstätten überrascht. Gleichzeitig fühlt er sich zurückversetzt in seine eigene Studentenzeit, wie er erzählt. 1974, da war er 21 Jahre alt und Präsident der jüdischen Studentenschaft von Basel, hätten linke Studenten der Progressiven Organisationen der Schweiz (Poch) eine Palästina-Woche an der Universität durchgeführt. Er holt einen Flyer hervor, den er von damals aufgehoben hat. Darauf steht, die Palästinenser müssten das «zionistische Staatsgebilde vernichten», um sich vom «kolonialen Joch» zu befreien.

Lewin sagt heute, was er schon damals gesagt hat: «Man darf selbstverständlich gegen Krieg und für einen Palästinenserstaat demonstrieren. Aber man darf nicht Israel das Existenzrecht absprechen.» Er fragt sich, warum die Ereignisse in Gaza an den Unis solche Emotionen schüren – nicht aber die ebenso schlimmen Konflikte in der Ukraine, in Syrien oder in Myanmar. Und er wehrt sich dagegen, dass manche Israel-Kritiker die Schweizer Jüdinnen und Juden für das mitverantwortlich machen, was im Nahen Osten passiert. «Das trifft die jüdische Gemeinschaft, es ist unfair.»

Die ganze Eskalation der letzten Monate konnte Lewin nicht erahnen, als er sich im Herbst 2020 zum SIG-Präsidenten wählen liess. Zwar hatte zuvor schon die Pandemie für eine grössere Verbreitung von Verschwörungstheorien gesorgt, wovon manche deutlich antisemitisch sind – etwa die Behauptung, die Impfstoffe seien «Judengift». Doch was nach dem 7. Oktober 2023 passiert ist, stellt all dies in den Schatten.

Eine intensive Zeit

Ruhig und sachlich redete Lewin seither auf allen Kanälen gegen die wachsende Judenfeindlichkeit an. Und bemühte sich auch darum, den religiösen Frieden mit den Muslimen in der Schweiz zu wahren. Das alles kostete Kraft.

Er habe sich noch nie so getäuscht in seinem Leben, sagt der frühere Basler SP-Regierungsrat. «Ich dachte, es handle sich um einen Zwanzig-Prozent-Job, doch es waren schon vor dem 7. Oktober eher achtzig Prozent.» Kürzlich feierte Lewin seinen 71. Geburtstag. Nochmals eine Amtsperiode von vier Jahren in dieser Intensität wollte er sich und seiner Familie nicht antun.

Dabei kann er in politischer Hinsicht auf eine erfolgreiche Zeit zurückschauen: Bei zahlreichen Anliegen des SIG gab es einen Durchbruch. So ist die Frage der Sicherheitskosten fürs Erste entschärft. Das Parlament entschied Ende 2023, die Beiträge zum Schutz religiöser Minderheiten auf fünf Millionen Franken zu verdoppeln. Die Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus ist auf gutem Weg, ebenso eine Antisemitismus-Strategie des Bundes oder das Verbot der Hamas.

Lewin macht sich keine Illusionen: Ohne den 7. Oktober und dessen Folgen wäre es nicht so schnell gegangen. «Das ist ein Wermutstropfen», sagt er. «Aber wenigstens kann heute niemand mehr die Augen davor verschliessen, wie wichtig Massnahmen zum Schutz der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz sind.»

Rochade mit dem Vize

Lewin tritt nicht komplett ab, er macht eine Rochade mit Ralph Friedländer, seinem bisherigen Vizepräsidenten. 2020 hatte sich Lewin in einer Kampfwahl knapp gegen Friedländer durchgesetzt, jetzt kommt dieser doch noch an die SIG-Spitze – er ist der einzige Kandidat für die Wahl am Sonntag in Bern. Für Friedländer ist das Timing optimal: Er wurde Ende Mai pensioniert. Bis dahin leitete er die Geschäftsstelle der Beratenden Kommission für internationale Zusammenarbeit des Bundesrates.

Friedländer kam 1959 in Moçambique zur Welt und wuchs in Genf und im Tessin auf. Für das Psychologiestudium ging er nach Zürich, so spricht er die drei grossen Landessprachen fliessend. Er war jahrelang als Kader mit Diplomatenpass für die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) tätig. Er bezeichnet sich selbst als regelmässigen Synagogengänger und lebt in einem koscheren Haushalt. Bis 2020 war Friedländer Präsident der Jüdischen Gemeinde Bern.

Ralph Lewin hingegen wird sich als Vizepräsident im Hintergrund um die Strategie und die Sanierung der Finanzen kümmern – der SIG macht jedes Jahr Hunderttausende von Franken Verlust. Und er hofft, dass endlich etwas Zeit bleibt für sein Lieblingsprojekt: die schönen Facetten des Judentums aufzuzeigen, all den Reichtum der Musik, des Humors, der Philosophie, der Literatur, des Films, der Küche.

Lewin weiss, dass die Agenda des SIG auch in Zukunft dominiert werden dürfte von düsteren Themen, von Krieg, Gewalt und Judenfeindlichkeit. Er sei den Medien dankbar, dass sie allem, was die Juden bedränge, so viel Aufmerksamkeit widmeten, sagt er. «Und doch wäre es gut, wenn vom Judentum vermehrt in positiven Zusammenhängen die Rede wäre. Das würde auch helfen, Vorurteile abzubauen.»

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