Mittwoch, April 30

Kurzvideos werden zum wichtigsten Infokanal für Touristen – und zwar für alle Generationen. Das verändert die Reiseindustrie nachhaltig.

Zum malerischen Rosenlaui-Tal im Berner Oberland fährt ein Bus pro Stunde. Darin sitzen rund zwei Dutzend Touristen aus Fernost. An der Endstation angekommen, steigen sie gehetzt aus, schiessen ein Selfie vor dem spektakulären Bergpanorama und fahren danach im gleichen Bus wieder zurück, mit dem sie gekommen sind.

Das hat letzten Sommer die Schweizer Reisefotografin und -bloggerin Noemi Pinto beobachtet, die unter dem Pseudonym «Share a Walk» auf den Plattformen Instagram, Youtube und Facebook unterwegs ist. «Die waren kaum fünfzehn Minuten da und haben von der Umgebung nicht viel mitgekriegt», sagt sie.

Pintos Leidenschaft ist die Schweizer Natur, die sie seit fünfzehn Jahren mit ihrer Kamera einfängt. «Diese Art von Tourismus hat seit Corona enorm zugenommen. Es hat sicher damit zu tun, dass über Social Media gewisse Orte viral gehen und einen Hype auslösen.»

Dass bildlastige Kanäle wie Instagram ein wichtiges Marketinginstrument für den Tourismus sind, ist nichts Neues. Seit kurzem ist aber eine andere Dynamik drin. Kurzvideos im Hochformat, die von der chinesischen App Tiktok populär gemacht und von der Konkurrenz kopiert wurden, mausern sich zum dominierenden Format in den sozialen Netzwerken. Der Tourismus ist davon ganz besonders betroffen.

Immer häufiger nimmt eine Ferienreise ihren Anfang auf einer der bekannten Plattformen – nicht mehr auf einer Suchmaschine wie Google und schon lange nicht mehr in einem Reisebürokatalog. «Es trifft definitiv zu, dass die sozialen Netzwerke laufend an Bedeutung gewinnen. Im Vordergrund steht dabei Tiktok, zunehmend aber auch Instagram und Youtube», sagt Markus Berger, Kommunikationschef der Vermarktungsorganisation Schweiz Tourismus.

Kurzvideos ersetzen Google

Auf diesen Kanälen würden laufend Reiseinhalte und Tipps publiziert. Für die jüngere Generation ist es mittlerweile der wichtigste Informationskanal. Das bestätigt eine Untersuchung des auf Tourismus spezialisierten Instituts Hochschule für Wirtschaft der Walliser Fachhochschule.

Von den unter 30-Jährigen geben 55 Prozent an, sich ihre Informationen zuerst auf den sozialen Netzwerken zu suchen. Bei den unter 40-Jährigen sind es 42 Prozent. «Es ist sehr schwer zu messen, was einen wirklich beeinflusst. Sicher ist: Ohne Social Media kommt man an gewisse Kreise gar nicht mehr heran, weil sie sich nur noch dort bewegen», sagt Roland Schegg, Professor an der Walliser Fachhochschule.

Aber es sind nicht mehr nur die Jungen, die den Kurzvideos verfallen sind. «Die Durchdringung der Altersgruppen schreitet rasch voran», sagt Markus Berger von Schweiz Tourismus. Die Organisation gibt denn auch den Grossteil ihres Marketingbudgets von etwas mehr als 60 Millionen Franken pro Jahr für Digitalwerbung aus.

«Bewegtbild in Hochformat – sprich auf dem Handyschirm – hat eine wahnsinnige Entwicklung hinter sich. Es ist einer der wichtigsten Treiber im Tourismus geworden. Man kann sagen, dass die Branche tiktokisiert wurde», sagt Stefan Joss von der Winterthurer Agentur Tourismusconsult, die sich auf digitales Marketing in der Reiseindustrie spezialisiert hat.

Tiktok hatte schon immer einen nischigeren Ansatz als etwa die Konkurrenz von Instagram und ist gleichzeitig gut darin, Interessen von Nutzern zu erkennen. Wer ein bestimmtes Anliegen hat – etwa: die besten Restaurants in Rom –, wird innert Kürze mit Unmengen an passenden Videos versorgt.

Reise-Influencer, vor allem solche ohne riesige Followerschaft, geniessen bei ihrem Publikum eine hohe Glaubwürdigkeit. Oft haben sie sich auf ein besonderes Thema spezialisiert: Wellnesshotels, Restaurants oder Bike-Pisten.

Wenn man es richtig mache, könne man als Hotel oder Ferienort von der Zusammenarbeit mit Influencern profitieren, sagt Stefan Joss. «Entscheidend ist, dass man die richtigen Influencer findet, welche sich an die eigene Zielgruppe richten.»

Gelingt es, sich einen Namen in den sozialen Netzwerken zu machen, kann man die Gäste für sich arbeiten lassen. Sie werden sich dabei fotografieren und filmen, wie sie eine Rösti essen oder umherwandern. Viele neue Hotels würden heute sogar nach diesem Prinzip gebaut, sagt Stefan Joss. «Mindestens ein Ort im Hotel, eine Wand oder eine Aussicht muss ein perfektes Fotosujet hergeben.»

Der Social-Media-Trend sei stark geprägt vom Wunsch nach einer individuellen Reise, sagt Dario Widmer. Er war jahrelang als Reise-Influencer unterwegs, gründete danach eine Marketingagentur, hat aber wieder angefangen, Social-Media-Inhalte zu produzieren, weil sein Account Swisswoow so erfolgreich war.

Der Fälensee geht viral

«Tourismusorganisationen vermarkten immer noch stark die Orte, die man schon kennt. Etwa Zermatt mit dem Matterhorn. Daran ist nichts falsch. Aber man verfehlt eine gewisse Zielgruppe», sagt Widmer. Denn die Leute würden auch Geheimtipps suchen.

Ein solcher ist der Fälensee im Appenzellerland. Versteckt zwischen zwei steilen Felsflanken spiegelt das beinahe schwarze Wasser die atemberaubende Umgebung. «Wenn ich ein Video vom Fälensee poste, geht das regelmässig viral», sagt Widmer.

Die Konsequenz ist allerdings, dass der steinige Wanderweg jetzt von Touristen aus aller Welt, teilweise mit Kinderwagen, in Angriff genommen wird. Ist ein solcher Ort noch ein Geheimtipp? «Im Marketing geht es darum, Dinge bekannt zu machen. Manchmal entsteht ein Hype, aber der geht wieder vorbei. Es gibt noch viele andere Geheimtipps in der Schweiz», sagt Dario Widmer.

Die Schweiz mit ihrer zauberhaften Natur ist wie gemacht für den modernen Tourismus, der Fotogenität über alles stellt. Hotels, Bergbahnen, Ferienregionen und Vermarktungsagenturen spielen geschickt mit der Wirkung starker Bilder. Vergangenes Jahr verzeichnete die Schweiz über 42 Millionen Hotelübernachtungen – so viele wie noch nie.

Und doch gibt es Bedenken. Zwar profitieren die Touristendestinationen davon, sagt die Fotografin Noemi Pinto. Sie glaubt aber auch, dass diese Art von Tourismus bei Einheimischen zunehmend auf Widerstand stösst. «Die Landschaft und die Ruhe in der Schweiz sind einzigartig, und die sollten wir so gut es geht schützen.»

Pinto schreibt deshalb nur noch vage Ortsangaben – etwa «Berner Oberland» – hin, wenn sie ein Foto von einem wenig bekannten Ort hochlädt. Damit Geheimtipps noch etwas länger geheim bleiben.

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