Samstag, September 28

Nach dem Tod des Hizbullah-Chefs kommen kritische Tage auf die Region zu. Nun richten sich alle Augen auf Iran. Der jüdische Staat scheint gewillt, das Risiko eines Flächenbrandes in Kauf zu nehmen.

Wer gedacht hatte, dass sich Israel nach den Pager-Attacken, der Tötung grosser Teile der Hizbullah-Militärführung sowie den vernichtenden Luftangriffen auf Südlibanon in seinem Krieg gegen die Schiitenmiliz nicht mehr steigern könnte, lag falsch: Hassan Nasrallah, der mächtige Chef des Hizbullah und wichtigster Verbündeter des iranischen Regimes im Nahen Osten, ist tot. Das haben die israelische Armee und die islamistische Truppe am Samstag bestätigt. Ein schwerer Luftangriff auf das Schiitenviertel Dahiye in Beirut tötete am Freitagabend nicht nur ihn, sondern weitere wichtige Kaderleute der Miliz sowie einen Kommandanten der iranischen Revolutionswächter.

Erinnerungen an den Sechstagekrieg von 1967 werden wach, als Israel innert kürzester Zeit den ägyptischen, jordanischen und syrischen Truppen eine vernichtende Niederlage zufügte. Diesmal heisst der Gegner Hizbullah – eine Miliz, die bis vor kurzem noch als eine existenzielle Bedrohung des jüdischen Staats gesehen wurde. Nun, lediglich neun Tage nach der Explosion von Tausenden Pagern von Hizbullah-Kämpfern, befindet sich die Miliz in ihrer grössten Krise seit ihrer Gründung vor mehr als vierzig Jahren. Dies ist der grösste Triumph Israels in seinem jahrzehntelangen Kampf gegen die Truppe.

Im Unterschied zum Sechstagekrieg hat Israel diesmal nicht nur seine absolute militärische Überlegenheit ausgespielt, sondern auch die seiner Geheimdienste. Diesen ist es offensichtlich gelungen, den Hizbullah und seine Kommunikationskanäle zu unterwandern. Es war eine Mischung aus List, akribischer Aufklärungsarbeit und geballter militärischer Gewalt unter Inkaufnahme zahlreicher ziviler Opfer, die diesen Coup möglich machte. Der Aufenthaltsort von Hassan Nasrallah war das wohl am besten gehütete Geheimnis Libanons – die Israeli haben es gelüftet.

Israel will eine neue Ordnung erzwingen

«New Order» hiess die Operation, bei der Nasrallah getötet wurde – eine neue Ordnung. Israel, so scheint es, will die Karten des Kräftegleichgewichts in der Region neu mischen, um endlich Sicherheit für die israelische Bevölkerung herbeizuführen und die Rückkehr der vertriebenen Bewohner des Nordens in ihre Häuser zu ermöglichen. Wie weit der jüdische Staat diesem Ziel mit der Tötung Nasrallahs näher gekommen ist, muss sich allerdings erst noch zeigen.

Denn der Hizbullah liegt zwar angezählt am Boden, ist aber keineswegs geschlagen. Natürlich wiegt der Tod Nasrallahs und grosser Teile der Hizbullah-Führungsriege schwer. Zudem haben Israels Angriffe nicht nur wichtige militärische Ressourcen zerstört, sondern auch innerhalb der Truppe so viel Misstrauen und Paranoia gesät, dass ein koordiniertes Vorgehen kaum mehr möglich ist. Es ist unwahrscheinlich, dass der Hizbullah in absehbarer Zeit zu einer wirklichen Gegenreaktion fähig sein wird.

Doch auch eine zerfallende Miliz, die über Zehntausende Raketen und Kämpfer verfügt, bleibt ein Risiko. Die verbliebenen Hizbullah-Kader werden alles unternehmen, um die Organisation, die tief in der schiitischen Gemeinschaft Libanons verankert ist, zusammenzuhalten und den Kampf gegen den Erzfeind Israel weiterzuführen.

Vor allem aber ist der Hizbullah nur ein Puzzleteil in einem grösseren Bild: Die Miliz ist das Kronjuwel der sogenannten «Achse des Widerstands», jenem von Iran angeführten Bündnis aus islamistischen Milizen, das selbst eine neue Ordnung im Nahen Osten erzwingen will – eine Ordnung, in der es keinen Platz für einen jüdischen Staat gibt. Die Raketen des Hizbullah dienten Teheran dabei als Kulisse der Abschreckung, die Israel von direkten Angriffen auf Iran und sein Atomprogramm abhalten sollte.

Was tut Iran?

Somit richten sich nun alle Augen auf Iran und das Regime von Ayatollah Ali Khamenei, das in einem Dilemma steckt. Was wird es tun? Setzt es wie bisher auf martialische Rhetorik und unternimmt nichts, so wie nach der Tötung des Hamas-Chefs Haniya in Teheran? Oder versucht es zu retten, was noch zu retten ist, und bringt den Hizbullah dazu, auch ohne Waffenruhe im Gazastreifen seinen Beschuss auf Israel einzustellen und sich von der Grenze zurückzuziehen?

Damit würde Iran wohl den Gesichtsverlust innerhalb der «Achse des Widerstands» riskieren und das Vertrauen der proiranischen Milizen verspielen. Es wäre ein schmerzhafter Schritt, der Irans gesamte aussenpolitische Strategie untergraben würde – aber womöglich wäre er weniger schmerzhaft als die Alternative: Denn sollte sich Khamenei angesichts der in sich zusammenfallenden Kulisse der Abschreckung dazu entschliessen, mit seinem eigenen Raketenarsenal einzugreifen, drohte ein regionaler Flächenbrand, aus dem sich auch die USA nicht mehr heraushalten könnten.

Vielleicht ist es genau das, worauf Israel spekuliert – eine strategische Gelegenheit, um die Karten in der Region mit amerikanischem Rückhalt grundlegend neu zu mischen und die «Achse des Widerstands» im Rahmen eines grossen Krieges zu brechen. Israel scheint dieses Risiko zumindest in Kauf zu nehmen, während der Westen machtlos zuschauen muss. Ein Jahr nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober feiert der jüdische Staat seinen grössten Sieg – gleichzeitig ist offener denn je, wie der Nahe Osten nach diesem Krieg aussehen wird.

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