Eine Lebensgeschichte muss zusammengesetzt werden. Über weite Strecken funktioniert die biografische Spurensuche hervorragend.

Eine Frauenleiche liegt am Waldrand. Die Kripo rückt an, weil Mordverdacht besteht. Aber als die Ermittlerin Brasch (Claudia Michelsen) der Toten den Puls fühlt, schreit sie: «Sie lebt!»

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Auf der Intensivstation kommt die Frau (Mareike Sedl) nicht zu sich. Sie war ohne Papiere mit einem fremden Mobiltelefon unterwegs. Wer ist sie? Wie kam sie dahin, wo man sie fand? Sie wurde von einem Auto angefahren, so viel steht fest. Ein silbergrauer Mercedes, wie es sie zu Tausenden gibt. Für Braschs Kollegen ist es ein klarer Fall von Fahrerflucht – also keine Sache für das Morddezernat.

Trotzdem beisst sich die Kommissarin fest. Das kann sie gut, Doreen Brasch, die zurückhaltend, aber sehr bestimmt ihren eigenen Weg geht. Brasch ist geradezu besessen davon, der Namenlosen im Krankenhaus ihre Identität und ihre Geschichte wiederzugeben. «Wenn sie jetzt stirbt, ist es, als hätte es sie nie gegeben», sagt Brasch, die sich moralisch und gefühlsmässig für die Unbekannte verantwortlich fühlt.

Stummes Opfer

Über das Mobiltelefon, das die Schwerverletzte bei sich hatte, werden erste Details über sie bekannt. Das Telefon gehört Berna (Rona Özkan), einer Putzfrau, die die Frau – sie nannte sich Sarah – bei sich aufnahm. Berna hatte Sarah völlig weggetreten und offenbar hilfsbedürftig vor ihrem Haus vorgefunden und beschlossen, der Fremden zu helfen. In Rückblenden erleben wir Sarah in den Tagen vor ihrem Unfall – und lernen sie doch nicht kennen.

Über lange Strecken bleibt sie stumm und starrt ins Leere. Einmal weint, ein andermal schreit sie. Dann trifft sie auf einen Mann, der behauptet, sie nie gesehen zu haben – und schlagartig ändert sich alles. Etwa eine Stunde lang hält der «Polizeiruf» die Spannung: Die Idee, eine Lebensgeschichte im Rückblick zusammenzusetzen, funktioniert über weite Strecken hervorragend.

Die engagierte Kommissarin bildet ein Gegengewicht zu Sarahs wort- und fast regloser Depression. Doch das wiederholte Verharren der Kamera auf Sarahs Gesicht, das nur einen Ausdruck – den der Verzweiflung – kennt, tut diesem «Polizeiruf» nicht gut. Gegen Ende lähmt ein Pathos der Langsamkeit die Folge. Der Hang zum Feierlichen macht sich schon im Titel «Widerfahrnis» bemerkbar, ein veraltetes Wort, das schicksalhaftes Erleben bedeutet und das der Duden nur noch als Verb («widerfahren») führt.

Biografische Spurensuche

Aller im Titel angedeuteten Schicksalhaftigkeit zum Trotz gibt es zum Schluss doch noch Täter, Opfer und klare Schuldzuweisungen. Denn der Gang der Ereignisse wird nicht zuletzt von den Entscheidungen Einzelner bestimmt. Auch wie die Kommissarin in ihrem Mitgefühl zur Tat schreitet – einer der schönsten Züge dieses Films von Umut Dağ –, ist eine Entscheidung.

Das Drehbuch von Zora Holtfreter und Lucas Thiem konzentriert sich auf die Frauenrollen; Männer sind hier nur Randfiguren. Eine Prostituierte (Iza Kala), die den Unfall beobachtet hat, macht eine wichtige Aussage. Berna liefert weitere Stichworte zu ihrem Leben. Bernas kleine Tochter (Soraya Maria Efe) ist die Einzige, die Sarah sanftere Gefühlsregungen entlocken konnte.

Brasch setzt all diese von ihr rekonstruierten Bruchstücke zu einer Geschichte zusammen. Gemeinsam werden die Frauen zu Zeuginnen eines Lebens, das zu Beginn dieser biografischen Spurensuche nur aus Fragezeichen bestand.

«Polizeiruf 110», «Widerfahrnis», am Sonntag, 4. Mai, um 20.05 / 20.15 Uhr, SRF 1 / ARD.

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