Mittwoch, Oktober 9

Die grösste Rundfahrt für Frauen bietet zwar viel Spektakel, ist aber noch nicht durchgehend ein Publikumsmagnet. Der Frauenradsport ist jedenfalls weiterhin ein fragiles Gebilde.

Die Tour de France Femmes erlebte am Sonntagabend ein Herzschlagfinale. Gleich mehrfach wechselte die Gesamtführung auf der letzten Etappe der Rundfahrt. Zunächst konnte sich die Bergpreis-Leaderin Justine Ghekire in einer Fluchtgruppe als virtuelle Leaderin fühlen. 55 Kilometer vor dem Ziel attackierte dann Demi Vollering. Die niederländische Vorjahressiegerin hatte noch ihre Landsfrau Pauliena Rooijakkers im Schlepptau, die im Klassement vor ihr platziert war.

Vor den berühmten 21 Kehren von L’Alpe-d’Huez reduzierte allerdings Katarzyna Niewiadoma, die Frau im Leadertrikot, ihren Rückstand auf die beiden Führenden. Es war ein Fernduell im Sekundenbereich, und es wurde am Berg zu einem Jo-Jo-Spiel auf Velos.

Ausgerechnet an Kehre 7, der sogenannten «Holländerkurve», war virtuell wieder eine der beiden Oranje-Frauen vorn, zumindest bei Einrechnung der Bonussekunden für den Tagessieg. Den holte schliesslich Vollering. Doch in der Schlussabrechnung war die 29-jährige Polin Niewiadoma um ganze vier Sekunden schneller und krönte sich zur neuen Königin des Frauenradsports. Rooijakkers als Dritte lag nur zehn Sekunden zurück.

Viele Lücken in der «Holländerkurve»

Als sportliches Spektakel stellte dieses Teilstück jedenfalls die meisten Vorstellungen der Männer in den Schatten. Erleben wollten dieses grandiose Finale allerdings nicht überwältigend viele Menschen. Selbst an der «Holländerkurve», wo beim Männerrennen jeweils grenzwertige Partys steigen, gab es mehr Lücken als Zuschauer – das war ein kleiner Dämpfer für eine grosse Rundfahrt.

Bei ihrer dritten Ausgabe wartete die Tour de France Femmes mit einigen Premieren auf. Erstmals startete sie im Ausland, wie traditionsgemäss auch die Austragung der Männer. Dort war der Zuspruch denn auch sehr beachtlich. Insgesamt 415 000 Personen standen in den ersten drei Tagen zwischen Rotterdam und Den Haag am Strassenrand. Beim Auftakt der Männer-Tour Ende Juni in Florenz waren zu den ersten Etappen in der Toskana und der Emilia-Romagna rund 730 000 Zuschauer gekommen.

Neu war auch, dass die Tour de France Femmes terminlich unabhängig von der «Grossen Schleife» der Männer stattfand; sie musste den Olympischen Spielen ausweichen. Die Renndirektorin Marion Rousse stellt aber gern die Selbständigkeit ihrer noch jungen Rundfahrt heraus. Der Zuschauerzuspruch zumindest in den ersten Tagen bestätigte sie. Und auch die Athletinnen selbst waren begeistert. «Wir sehen zwar auch bei Classiques wie etwa der Flandernrundfahrt viele Zuschauer. Aber viele von ihnen kommen vor allem wegen der Männer. Jetzt aber waren sie allein für uns da», meinte die ehemalige Weltmeisterin Elizabeth Deignan.

Die Tour de France Femmes emanzipiert sich jedenfalls weiter und baut ihr Terrain aus: Im nächsten Jahr soll es neun Etappen geben, statt deren acht wie in diesem Jahr und in den ersten beiden Auflagen. Damit will Rousse mehr Raum für einen guten Etappen-Mix schaffen. Schon in diesem Jahr war für jeden Typ Fahrerin etwas dabei: Flachetappen zum Auftakt in den Niederlanden, ein Zeitfahren, ein Teilstück mit dem Profil einer Classique sowie das grosse Bergfinale in L’Alpe-d’Huez.

Jene Bergankunft war zwar keine Premiere; bereits 1992 und 1993 war L’Alpe-d’Huez Schauplatz des Finals der Tour cycliste feminin gewesen, einer Vorgängerversion der Tour de France Femmes. Beide Male gewann mit Leontine Zijlaard-van Moorsel ebenfalls eine Niederländerin. Sie bestritt 1993 sogar 12 Etappen. Jene Ausgabe war mit 1183 km auch insgesamt länger als die aktuelle Tour de France Femmes mit ihren knapp 950 km. Es besteht rein quantitativ also noch Luft nach oben.

Bei vielen Equipen herrscht Existenzangst

Aber die Renndirektorin Rousse will die Entwicklung nicht überstürzt vorantreiben. Denn trotz allen Fortschritten ist der Frauenradsport weiterhin ein fragiles Gebilde. Traditionelle Teams wie Lifeplus Wahoo und DNA Procycling geben aus finanziellen Gründen auf – sie waren seit 2015 beziehungsweise 2012 dabei. Auch bei anderen etablierten Equipen herrscht Existenzangst. So zieht sich der Co-Sponsor Mavic bei Saint Michel-Mavic zurück. «Uns fehlen 500 000 Euro, um weitermachen zu können», klagt Ex-Profi Pierre Rolland, der sich mittlerweile für das 1994 gegründete Team engagiert.

Das Rennstall-Sterben im Frauenradsport wird auch von der Einführung der Pro-Continental-Lizenzen ab 2025 beeinflusst. Damit meint es der Radsportweltverband UCI zwar gut: Er sieht ein Mindestsalär von 20 000 Euro und eine Festanstellung der Betreuer vor. Das Budget zur Absicherung dieser finanziellen Leitplanken für das Personal können manche Rennställe aber offenbar nicht auftreiben. Und auch das TV-Publikum will erst noch erobert werden. Die ARD stieg bei dieser Tour de France Femmes erstmals mit einer Liveübertragung ein. Mit 350 000 Zuschauern auf der 6. und 430 000 auf der 7. Etappe fiel das Ergebnis aber mager aus.

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