Die Touristen sind zurück in Luzern – und mit ihnen die Frage: Was wollen die eigentlich bei uns? Annäherung einer befremdeten Einheimischen.
Ich wohne in Luzern, und wir Einheimischen machen uns gerne lustig über die Touristen, die unsere Stadt fluten. Wenn sie ihr Ferienglück inszenieren mit eingeübtem Lächeln und leicht geneigtem Kopf. Wenn sie wie Kindergärtler in Zweierreihe durch die Gassen der Altstadt trotten. Wenn sie bei 30 Grad unbeholfen mit der Gabel im Fondue stochern.
Luzern zählt 85 000 Einwohner und zieht jedes Jahr Millionen von Touristen an. Es ist die wohl einzige Stadt in der Schweiz, die tatsächlich mit Overtourism ringt.
Wir Luzerner haben ein gespaltenes Verhältnis zum Tourismus. Er schafft Arbeitsplätze und Hunderte Millionen von Franken. Doch er verursacht auch Ärger und Frust. Wir kämpfen mit dem diffusen Gefühl, etwas von unserer Stadt zu verlieren.
Mein Luzern hat wenig mit dem Luzern der Touristen zu tun. In meiner Stadt gibt es Quartierfeste und Baustellen, Startups und Pop-ups, eine Fasnacht und Fussballfans, die seit 35 Jahren auf den Meistertitel warten. Meine Stadt ist mehr als eine Kulisse.
Deshalb ist es Zeit für eine Reise. Mehr noch: für eine Konfrontation. In diesem Sommer, in dem halb Europa über die Touristenmassen schimpft, besuche ich jene Orte, die ich sonst stets meide: die Touristen-Hotspots. Ich reise zu den berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Region, von der Kapellbrücke bis auf den Titlis. Gleichzeitig wird es eine Reise in mein Inneres. Eine Erkundung der eigenartigen Beziehung zwischen Touristen und Einheimischen.
Kapellbrücke – oder die Macht der Bilder
Die Kapellbrücke, eine der ältesten und längsten Holzbrücken Europas, verbindet die Altstadt mit der Neustadt. Tausende Menschen passieren sie jeden Tag. Der Wasserturm ist Luzerns Wahrzeichen und das wohl meistfotografierte Sujet der Stadt.
Ich realisiere bereits nach wenigen Sekunden, wieso ich die Kapellbrücke normalerweise umgehe. Man sagt, Touristen erkenne man an ihrem Outfit. Ich finde: Man erkennt sie an ihrem Tempo. Sie schlurfen ein paar Schritte, halten abrupt, wenden. Ich komme mir vor wie eine Sportwagenbesitzerin, die an einer Gruppe Sonntagsfahrer vorbeischlängeln will.
Also: einen Gang herunterschalten. Und mit dem Flow gehen.
Weil ich schlendern muss, bleibt Zeit, um die Gemälde unter den Dachgiebeln zu betrachten. Sie zeigen Szenen aus dem Leben des heiligen Leodegar und des heiligen Mauritius, der beiden Luzerner Stadtpatrone, und aus der Geschichte der Eidgenossenschaft. Die meisten Touristen blicken allerdings nicht nach oben, sondern durch die Linse. Alle paar Meter fotografieren sie den Wasserturm, das Panorama, sich selbst.
Touristen, das sind immer die anderen, selbst ist man höchstens Reisender. Doch verhalten wir uns wirklich anders, wenn wir Rom, Paris, Istanbul besuchen? Womöglich reagiere ich darum so peinlich berührt auf Touristen: Sie halten mir den Spiegel vor.
Zwei junge Amerikanerinnen zeigen Richtung Rigi und schwärmen vom Panorama – der Natur, den Bergen, dem Wasser. Arthur Schopenhauer schrieb 1804 in seinem Reisetagebuch über Luzern: «Ein kleines, schlecht gebautes, menschenleeres Städtchen. Aber die Aussicht ist göttlich.»
Menschenleer ist die Stadt heute nicht mehr. Der landschaftliche Reiz, die Berge und der See, ist Luzerns bestes Verkaufsargument geblieben. Doch es gibt tausend schöne Orte auf dieser Welt. Wieso kommen alle nach Luzern?
Valentin Groebner ist Historiker und sagt, Touristen wollten sehen, was sie kennen würden. Das, was tausendfach auf Fotos oder in Reiseführern abgebildet sei – und deshalb offenbar wichtig sei. Ein Perpetuum mobile, gerade in Zeiten von Social Media.
Was Groebner sagt, mag stimmen. Touristen ziehen Touristen an. Aber woran wir uns später erinnern, sind selten die Sehenswürdigkeiten. Sondern: der Moment, als es ins Zimmer regnete, weil die überteuerte Dachwohnung in Paris undicht war. Als es in Córdoba um Mitternacht noch 29 Grad heiss war. Als der Kellner in Sizilien unser Trinkgeld ablehnte, weil wir nach dem reichlich nachgeschenkten Wein viel zu viel geben wollten.
Was bleibt, ist das Überraschende, das Unnachahmliche, das Unplanbare. Es sind die Dinge, die aus dem uniformen Ferienerlebnis ein persönliches machen.
Wieso also besuchen die Touristen in Luzern nicht einmal das Kleintheater oder eine Sommerbar am See? Wieso lassen sie sich nicht einmal in der Reuss treiben statt im Gedränge der Massen? Ihr Bild von Luzern wäre lebhafter. Und: Die Touristen würden sich viel besser über die Stadt verteilen.
Schwanenplatz – oder das Sinnbild des Massentourismus
Ich lasse die Kapellbrücke hinter mir und erreiche nach wenigen Minuten den Schwanenplatz. Er ist für viele Einheimische zum Sinnbild des Massentourismus geworden. Ein Car hält an, Touristen steigen aus und verschwinden in die Uhren- und Souvenirläden. Der Car fährt weg, der nächste kommt.
1000 Arbeitsplätze hängen allein vom Gruppentourismus am Schwanenplatz ab. Insgesamt generiert die Tourismusbranche in der Stadt Luzern 7500 Arbeitsplätze und eine jährliche Wertschöpfung von 760 Millionen Franken. Trotzdem kritisieren manche, vom Tourismus profitierten nur die Geschäfte am Schwanenplatz.
Ich betrete das Uhrengeschäft Bucherer, den diskreten Platzhirschen in der Stadt. Und bin erstaunt. Erwartet hatte ich eine Boutique, angetroffen habe ich ein Kaufhaus. Auf vier Stockwerken beraten die Verkäuferinnen die Touristen in Nischen, auf Englisch, Französisch, Chinesisch – und wohl noch vielen anderen Sprachen. Das Personal ist zuvorkommend. Und trotzdem fühle ich mich wie ein Eindringling an einem Ort, der nicht für mich gemacht ist.
Im Laden gegenüber gibt es Schmuck, Schokolade, Sackmesser zu kaufen, die heilige Dreifaltigkeit der Schweizer Souvenirs. Kommerzialisierte Klischees: überall Edelweiss, Schweizerkreuz und Volksmusik. Zwei Chinesinnen schütteln entzückt Kuhglocken, und ich frage mich, ob sie hier Waren kaufen, die in ihrem Heimatland hergestellt wurden. Es ist hektisch und laut, die Schlange vor der Kasse lang. Die Kunden quetschen sich durch die Regale, als gehe es darum, die letzten Souvenirs zu ergattern.
Wieder draussen auf dem Schwanenplatz, bezweifle ich, ob wir Luzerner tatsächlich so weltoffen sind, wie wir uns gerne rühmen. Oder ist das nur eine Illusion, die uns «Mister Luzern», der beste Verkäufer der Stadt, untergejubelt hat?
«Mister Luzern», so wurde Kurt H. Illi genannt, Luzerns legendärer Tourismusdirektor. Er hat zwei Dinge geschafft, die bis heute nachwirken. Erstens hat Illi mit unkonventionellen Werbeaktionen die Gruppentouristen nach Luzern gebracht. Illi organisierte Hochzeiten für japanische Gäste auf dem Titlis, ging im Anzug im Vierwaldstättersee baden, und er weinte vor der Kamera bittere Tränen, als 1993 die Kapellbrücke in Flammen aufging. Das zweite Vermächtnis Illis: Er hat das Selbstverständnis von Luzern als Touristenstadt geprägt. Viele Luzerner sind stolz darauf, da zu wohnen, wo andere Ferien machen.
Doch nun scheint da etwas zu bröckeln. In Luzern ist die Hälfte der Bevölkerung laut jüngster Umfrage der Meinung, es gebe zu viele Touristen in der Stadt. Das zeigt sich auch an der Urne. Eine Mehrheit der Stadtluzerner stimmte der Aufhebung eines Carparkplatzes im Zentrum zu, und später auch einer Initiative, die kommerzielle Airbnb-Wohnungen verbieten will.
Illis Erfolg ist für Luzern zum Bumerang geworden. Nun wollen die Politiker handeln. Es sollen mehr Individualreisende kommen, die länger bleiben – Klasse statt Masse, so steht es in der neuen Tourismusvision der Stadt. Ob die Touristen mitmachen, ist unklar. Ob sich die Einheimischen damit zufriedengeben, ebenso.
Löwendenkmal – oder wenn die Welt stehen bleibt
Auf dem Weg zum Löwendenkmal frage ich mich, wieso alle dahin wollen. Was ist ein Löwe aus Stein im Vergleich zum Kolosseum, zum Eiffelturm, zur Akropolis? Zu meiner eigenen Überraschung erfasst mich Ergriffenheit, als ich den sterbenden Löwen über dem Wasser erblicke. Wie erhaben er da liegt! Ich verstehe sofort, was Mark Twain meinte, als er einst schrieb, der Löwe sei das «traurigste und bewegendste Stück Stein der Welt».
«Say cheese», ruft ein von Berufs wegen fröhlicher Touroperator zu einer Schar junger Leute. «Say formaggio!» Gruppe um Gruppe kommt zum Löwendenkmal. Sie raunen, schauen, posieren, gehen wieder. Schon kommen die Nächsten. Eine Theaterszene in Endlosschleife.
Eine ältere Amerikanerin, geblümtes Shirt und Hut, trinkt einen Schluck vom Brunnen. «Dieses Wasser», sagt sie zu ihrem Mann. «Man merkt sofort, dass es aus den Bergen kommt.» Die Stadt sei «very charming», und so viel übersichtlicher als die Städte in Kalifornien.
Die beiden erzählen, sie hätten Luzern schon vor 42 Jahren bereist. «Es ist genauso wie damals. Nichts hat sich verändert», sagt die Frau. Und sie meint das positiv.
Titlis – oder die Inszenierung der Schweiz
Ich sitze im vollen Regionalzug nach Engelberg, Stimmung wie auf einer Schulreise. Eine Frau in Kopftuch und mit Chanel-Sonnenbrille berauscht sich an jeder Andeutung von Berg, die sich im Panoramafenster abzeichnet. Ein Chinese fotografiert Bauernhof um Bauernhof.
Während Einheimische den Pilatus oder die Rigi bevorzugen, hat sich der Titlis auf internationale Gäste ausgerichtet. An der Talstation steht eine philippinische Familie vor mir, zwei Erwachsene, zwei Kinder. Sie bezahlen 288 Franken für die Fahrt. Der Vater zückt unbeeindruckt die Kreditkarte. Und staunt, als ich erzähle, ich sei, 37-jährig, noch nie auf den Titlis gefahren.
Ich wusste ja nicht, was mir entgeht. Eine Gletschergrotte samt Eis-Thron für Fotos! Eine spektakulär wankende Hängebrücke! Eine Sesselbahn namens Ice Flyer! Und: Bald eröffnet die von den Stararchitekten Herzog & de Meuron gestaltete Bergstation mit Aussichtsturm. Der Titlis ist die perfekte Inszenierung der Schweizer Bergwelt.
Es ist natürlich ein bisschen absurd, wie wir auf 3020 Metern über Meer in Turnschuhen auf dem angebräunten Restschnee herumrutschen. Doch als sich die Nebelschwaden verziehen und den Blick auf den Gletscher freigeben, zücke ich intuitiv ebenfalls das Smartphone.
Nirgends sei es so schön wie hier, sagt ein Mann aus Indien, während seine Frau einen Schneemann baut. Er lobt die hiesigen Ingenieure, die Infrastruktur, das Panorama, den Schnee. Seine Frau sagt: «In der Schweiz ist es wie im Himmel!»
Ja, denke ich im Zug zurück, die Touristen nehmen ein verklärtes Bild mit nach Hause. Viele suchen die saubere, heile Schweiz, eine begehbare Postkarte. Und freuen sich, wenn sie das finden. Dieses Bild hat wenig mit unserem Alltag zu tun. Aber vermutlich noch viel weniger mit ihrem.
Wer reist, bedient eine Sehnsucht, die man in der Heimat nicht spürt. Die Sightseeingtour durch Luzern zeigt mir auch: Zu Hause ist dort, wo man keinem Selfie nachrennen muss.
Es ist eine Illusion, zu denken, Reisen schaffe die grosse Verständigung. Meist gehen sich Einheimische und Touristen aus dem Weg. Am Ende sind es zwei Rollen, die schemenhaft bleiben. Vielleicht muss das so sein. Damit man aneinander vorbeikommt.
Im Quartier begegnete ich kürzlich einem Touristenpaar, der Mann zeigte auf sein Smartphone und fragte, ob ich wisse, wie sie zu diesem netten kleinen Bistro unter der Museggmauer kämen.
Nicht doch, schoss mir durch den Kopf. Dieses Bistro gehört uns, den Einheimischen! Bleibt ihr in der Altstadt, bei der Kapellbrücke und auf dem Titlis!
Geradeaus den Hügel hoch und dann links, sagte ich und lächelte. Es ist wirklich schön da.