Montag, November 4

Ist die direkte Demokratie immer noch ein Vorteil für den Wirtschaftsstandort Schweiz? Nicht mehr alle Wirtschaftsvertreter sind sich so sicher. Das Volk ist weniger berechenbar geworden. Und die Kadenz weitreichender Initiativen ist enorm hoch.

Die Schweiz ist keine Micky-Maus-Demokratie. Wir stimmen nicht nur über lokale Turnhallen ab, sondern auch über die grossen Themen des Landes. Per Volksinitiative können die Urnengänger fast alles in die Bundesverfassung schreiben – wenn es nicht gegen zwingendes Völkerrecht verstösst und wenn es umsetzbar ist. Eine Volksinitiative zur Abschaffung des Wetters wäre nicht umsetzbar, aber eine Initiative zur Abschaffung der Armee, der Kantone oder der Mehrwertsteuer wäre umsetzbar.

Seit Einführung der Volksinitiative 1891 wurden im Mittel pro Jahr rund vier solcher Vorstösse lanciert, knapp drei kamen zustande, und knapp zwei kamen an die Urne. In den letzten Jahrzehnten hatte das Instrument Hochkonjunktur: Seit dem Jahr 2000 wurden im Mittel pro Jahr etwa elf Volksinitiativen lanciert, und rund zwei Drittel kamen auch zustande. Das Volk entschied an der Urne im Durchschnitt jährlich über vier dieser Initiativen.

Die direkte Demokratie ist ein politisches Juwel: Sie zwingt das politische Führungspersonal zu ständigen Erklärungen; sie schafft hohe Legitimität von Entscheiden; sie liefert einen im Vergleich zu französischen Strassenblockaden weit konstruktiveren Kanal für Unzufriedene; und vor allem ermöglicht sie am ehesten eine Deckungsgleichheit zwischen Entscheidern und Betroffenen. Der Spruch «Wir haben die Zustände, die wir verdienen» trifft daher für die Schweiz weit eher zu als für rein parlamentarische Demokratien. Es ist viel schwieriger, gegen «die Volksmehrheit» zu demonstrieren als gegen «246 korrupte Parlamentarier» oder «sieben unfähige Minister».

Aktivposten für die Wirtschaft

Die direkte Demokratie galt traditionell auch als Aktivposten für den Wirtschaftsstandort Schweiz. Die Volksmehrheit hatte den Ruf, «vernünftig» zu entscheiden, «Exzesse» abzulehnen, widerstandsfähig gegenüber Lockvogel-Initiativen zu sein und damit einen wesentlichen Pfeiler für die Rechtssicherheit und Verlässlichkeit der Schweiz zu bilden. Als besonders oft zitiertes Beispiel dient der Urnengang von 2012 über die Volksinitiative zu sechs Wochen Ferien, mit einer Nein-Mehrheit von zwei Dritteln.

In Wirtschaftskreisen sind allerdings nicht mehr alle so sicher, ob das Bild immer noch stimmt. Diverse Abstimmungsentscheide der letzten Jahre lassen mutmassen, dass das Volk wirtschaftskritischer, linker und anspruchsvoller gegenüber dem Staat geworden ist. Illustrationsbeispiele lieferten die Abfuhr von drei Steuerreformen an der Urne, das Volks-Ja zur Konzernverantwortungsinitiative (die nur am Ständemehr scheiterte) und jüngst die Zustimmung zum Ausbau der AHV.

Mögliche Ursachen der Tendenz reichen von der Wohlstandsverwöhnung über den Glaubwürdigkeitsverlust grosser Firmen als Folge von Skandalen und Bankenrettungen bis zu den Erfahrungen der Corona-Pandemie. Kein Grund ist die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung: Der Mehrheit der Bevölkerung geht es finanziell heute besser als vor zehn, zwanzig, vierzig und sechzig Jahren – obwohl die Medien gerne das Gegenteil suggerieren. Diesen Monat hat das Volk zwar die SP-Initiative zum Ausbau der Subventionen der Krankenkassenprämien abgelehnt, aber die Zustimmung war angesichts der weitreichenden Initiative mit 44,5 Prozent bemerkenswert hoch.

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

Der jüngste Abstimmungssonntag illustrierte eine Hauptquelle der Beunruhigung in Wirtschaftskreisen: Noch am gleichen Tag kündigten die Verlierer schon ihre nächste Volksinitiative zum Gesundheitswesen an – zugunsten einer staatlichen Einheitskrankenkasse. Die Summe weitgehender Volksinitiativen von links und von rechts ergibt ein Trommelfeuer: Kaum ist ein Urnengang über eine Initiative vorbei, wirft schon der nächste seine Schatten voraus. Die Initianten treiben die Bundespolitik vor sich her, die Parlamentsmehrheit ist stark mit Abwehrkämpfen beschäftigt.

Die Volksinitiative war einst eher gedacht als Instrument für Aussenseiter. Doch in der Praxis ist sie oft auch ein Wahlkampf- und Mobilisierungsvehikel für etablierte Parteien – besonders für die Polparteien links und rechts, zum Teil aber auch in der Mitte.

Die Initianten sind sich dabei nicht zu schade, es immer wieder zu versuchen: Man kann seine Lieblingsthemen damit laufend und medienträchtig bewirtschaften, und man muss nur einmal gewinnen, damit eine Initiative in der Bundesverfassung steht und von dort faktisch kaum mehr wegzubringen ist. Die kurzfristige politische Konjunktur und damit auch der Zufall können eine wichtige Rolle für das Volksverdikt spielen. Je öfter man es versucht, desto mehr Chancen hat man, das Glück auf seine Seite zu zwingen.

Einmal wird es klappen

Über die linke Forderung nach einer staatlichen Einheitskrankenkasse hat das Volk seit dem Jahr 2000 schon zweimal abgestimmt. 2007 scheiterte eine Initiative, die neben der Einheitskrankenkasse auch einkommensabhängige Prämien forderte, mit 71 Prozent Nein-Stimmen. 2014 erhielt eine weitere Volksinitiative für die staatliche Einheitskrankenkasse knapp 62 Prozent Nein-Stimmen.

Die im März 2024 erfolgreich gewesene Initiative für eine «13. AHV-Monatsrente» war schon der vierte Versuch seit dem Jahr 2000, via Volksinitiative einen AHV-Ausbau durchzubringen. Zum ersten Mal reichte es nun für mehr als 50 Prozent Zustimmung. Und das Trommelfeuer geht weiter. Im Parlament steckt zurzeit eine linke Volksinitiative, die faktisch verlangt, dass die Schweiz ihren Umwelt-Fussabdruck innert zehn Jahren um etwa zwei Drittel reduziert. Der Vorstoss geht damit noch wesentlich weiter als die Volksinitiative zur «grünen Wirtschaft», die 2016 an der Urne mit 64 Prozent Nein-Stimmen scheiterte.

Ebenfalls im Parlament steckt eine weitere linke Initiative, die zusätzliche Bundessubventionen von über 2 Milliarden Franken pro Jahr für Kinderkrippen fordert. Eine andere linke Volksinitiative, die etwa 2026 zur Urne kommen könnte, verlangt 100 bis 200 Milliarden zusätzliche Staatsausgaben für einen Klimafonds bis 2050. Und eine Initiative der Jungsozialisten fordert eine Erbschaftssteuer von 50 Prozent auf Vermögensteilen über 50 Millionen Franken zwecks Bekämpfung der Klimakrise.

Auch die Rechte kann das

Auch Initiativen von rechts treiben Regierung und Parlamentsmehrheit vor sich her. Einwanderungsbeschränkung, Selbstbestimmung, Neutralität waren in jüngerer Zeit zentrale Stichworte dazu. Besonders im Fokus steht zurzeit die SVP-Volksinitiative zur Vermeidung der «10-Millionen-Schweiz», welche faktisch die Versenkung der Personenfreizügigkeit und des damit verbundenen Vertragspakets Schweiz-EU verlangt. Auch die laufenden Verhandlungen zwischen Bern und Brüssel über eine Weiterentwicklung der Beziehung sind damit fundamental infrage gestellt.

Das Volk hat bisher die grosse Mehrheit der Initiativen an der Urne abgelehnt und dürfte dies wohl auch weiter tun. Doch die Erfolgsquote bei den Volksinitiativen ist gestiegen. Seit 1891 erreichten an der Urne 26 von 233 Initiativen die Mehrheit von Volk und Ständen. 14 dieser Erfolge gab es seit dem Jahr 2000. Seit 2000 waren rund 13 Prozent der Volksinitiativen an der Urne erfolgreich, zuvor waren es gut 9 Prozent.

Gemessen an der Kadenz seit dem Jahr 2000 stimmt das Volk in den nächsten zwanzig Jahren über total etwa 80 Volksinitiativen ab. Bei einer Erfolgsquote von 10 bis 15 Prozent wäre mit acht bis zwölf erfolgreichen Initiativen zu rechnen – worunter auch weitreichende Vorstösse sein könnten. Diese Aussicht mag einige Wirtschaftsvertreter nervös machen. Solche Risiken gehören zum Preis der direkten Demokratie. Ob die politischen Aussichten in anderen europäischen Ländern besser sind, ist eine ganz andere Frage.

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