Sonntag, Oktober 6

An den Grenzen wurden Kinder von ihren Eltern getrennt – Errol Morris beleuchtet im Film «Separated» ein schreckliches Kapitel aus Trumps Präsidentschaft. Im Interview bemängelt er das Argument der damaligen Regierung, man mache nichts Aussergewöhnliches: «Wieso wurden die Vorgänge nicht dokumentiert, wieso wurden sie zuerst abgestritten?»

Die Mauer reichte nicht. Als Präsident setzte Donald Trump auch auf die rabiate Abschreckung von Einwanderern. Zu seiner «Zero tolerance»-Politik gehörte es, aufgegriffenen Migranten die Kinder wegzunehmen. Der Oscar-prämierte Dokumentarfilmer Errol Morris hat in seiner neuen Arbeit «Separated» das unrühmliche Kapitel aus Donald Trumps Amtszeit aufgearbeitet.

Lange stritt die Administration ab, dass es zu «family separations» kam. Doch während die Erwachsenen strafrechtlich verfolgt, in Haft genommen oder postwendend abgeschoben wurden, hat man die Kinder in teilweise käfigartige Zellen gesteckt. Dokumentiert wurde nichts, die Behörden verloren bald den Überblick, und bis heute konnten an die 2000 Kinder noch nicht wieder mit ihren Eltern vereint werden. In einer Hotellobby am Lido in Venedig sitzt ein adretter Regisseur im weissen Hemd, der versucht, ruhig zu bleiben.

Mr. Morris, hat das Thema Einwanderung vor acht Jahren die Wahl zugunsten von Donald Trump entschieden?

Es scheint so. Trump machte die Einwanderung zu einem zentralen Element seiner Kampagne, er dämonisierte Einwanderer, er nannte sie Kriminelle, Vergewaltiger, und er beharrte darauf, dass die bestehende Regierung nichts unternehme, um die Grenze zu schützen; sein ganzer Mauerwahnsinn. Einwanderung war für ihn absolut zentral.

Und ist das heute noch so?

Ja. Wobei es nicht mehr so sehr um den Bau der Mauer geht, sondern mehr darum, dass wir unsere Grenzen offenbar für das Schlimmste öffnen, was die Menschheit zu bieten hat. Drogenhändler, Vergewaltiger, Mörder. Amerika in Gefahr. Es ist nun eine noch direktere, überwältigendere Panikmache. Wenn man hört, wie Trump auf seiner Wahlkampftour spricht, ist es immer dasselbe: Kriminelle stürmen die Grenze. Es ist schiere Idiotie, aber es scheint für ihn zu funktionieren.

Warum wirkt es?

Warum wirkt Angst bei Menschen?

Warum zieht Einwanderung als Thema?

Eben darum: wegen der Angst. Angst vor anderen Menschen. Angst vor dem Unbekannten. Das ist eine Trope, auf die man immer zurückgreifen kann: Das Land sei der Gefahr ausgesetzt, dass eine Horde von Menschen an die Tür klopfe, um reinzukommen.

Auch unter Joe Bidens Präsidentschaft ist die Zahl illegaler Einwanderer stark gestiegen.

Mein Film entlässt die Biden-Administration nicht aus der Verantwortung. Immigrationspolitik ist kompliziert. Aber es geht um die schändliche Politik von Trump. Trump mochte von Anfang an das Bild von Karawanen. Karawanen, die sich der Grenze näherten, voller Menschen, die versuchten, Amerika zu zerstören.

Glaubt er das wirklich, oder geht es ihm um Macht?

Macht und Kontrolle.

Wie erinnern Sie sich an seine ersten Tage im Amt?

Eine Horror-Show. Am Abend, an dem Trump die Wahl gewonnen hatte, war ich in einer Schockstarre. Wie konnte das wahr sein? Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das unters Bett kriechen will und immer wieder sagt: Mama, bitte mach, dass es aufhört. Das ist schrecklich, ich hasse das.

Was konkret fanden Sie schrecklich?

Gleich in den ersten Tagen verhängte er den «Muslim ban». Er entschied, dass Menschen aus muslimischen Ländern die Einreise in die Vereinigten Staaten verboten sei. Es schien komplett verrückt. Komplett rassistisch. Wie viele andere fürchtete ich seine Präsidentschaft. Ich dachte, dass Hillary Clinton gewinnen würde, und als sie es nicht tat, herrschte ein Gefühl der Angst, und das Gefühl war gerechtfertigt. Er hat keine Zeit verschwendet, schändliche Massnahmen einzuführen. Eine rassistische Massnahme nach der andern. Die Trump-Präsidentschaft war eine schreckliche Zeit, und ich bete dafür, dass das nie, nie wieder passiert. Dass Amerika diese Art von Wahnsinn nicht noch einmal erleben muss.

Wir neigen dazu, zu vergessen. Die meisten Menschen erinnern sich vermutlich nicht mehr an den «Muslim ban». Oder glauben Sie, dass Massnahmen wie diese in den Köpfen der Leute Spuren hinterlassen haben?

Ich weiss nicht, was in den Köpfen der Leute ist. Sie unterdrücken vieles und vergessen vieles. Traurig, aber wahr.

Wollen sich die Leute nicht erinnern?

Ich glaube, sie erinnern sich nicht und wollen sich auch nicht erinnern. Eine Kombination aus A und B. Wenn Menschen abgestumpft sind, sind sie dann absichtlich abgestumpft oder wurden sie so? Ich weiss es nicht.

Neben dem «Muslim ban» gab es die Familien, die an der Grenze getrennt wurden. Kinder wurden den Eltern weggenommen.

Ich weiss noch, wie ich in den Nachrichten davon erfuhr, aber ich erkannte nicht gleich, wie schrecklich das alles war. Ich habe schnell dazugelernt.

Es war lange nicht bekannt, was wirklich passierte.

Der Journalist Jacob Soboroff, der mit seinem Buch «Separated: Inside an American Tragedy» den Anstoss für den Film gab, hat es minuziös recherchiert. Was mich fasziniert, ist, dass es ein Pilotprojekt gab: das El-Paso-Projekt. Dort wurden von Anfang an solche Trennungen geplant und durchgeführt. Über ein Jahr später erst erfuhr man davon. Kinder von den Eltern zu trennen, war übrigens eine Massnahme, die von jeder anderen Regierung davor abgelehnt wurde.

Während der Obama-Regierung waren «family separations» auch im Gespräch.

Wurden aber abgelehnt, weil es einfach inakzeptabel ist. Natürlich, man hat versucht, die Bewegung von Menschen über die Grenze in die Vereinigten Staaten zu kontrollieren: Es gab und gibt ein Problem. Aber niemand hat die Trennung von Kindern von ihren Eltern ernsthaft in Erwägung gezogen. Der Gedanke wurde als ekelhaft angesehen. Es ist etwas, was nicht getan und nicht toleriert werden darf.

Trump, sagen Sie nun auch in Ihrem Film «Separations», habe vom ersten Tag an darüber nachgedacht, illegalen Einwanderern die Kinder wegzunehmen.

Er hat nicht nur darüber nachgedacht. Er hat es vom ersten Tag an getan. Trump scheint ein eigenartig geistloses Individuum zu sein. Ich weiss nicht, ob er nur ein Werkzeug der Kräfte um ihn herum ist oder ob er unabhängige Überzeugungen hat.

Wie haben die Familientrennungen funktioniert?

Die Administration hat eine sogenannte «Zero tolerance»-Politik ausgearbeitet. Einer von diesen Euphemismen. Jedenfalls, das Argument, das sie sich zurechtgelegt haben, war: Jemand, der die Grenze illegal überquert, wird verhaftet. So wie jeder verhaftet wird, der etwas Illegales tut. Und wenn der Verbrecher ein Kind dabei hat, nimmt man ihm das Kind weg und steckt es in Schutzhaft.

Was man sonst auch tut.

Richtig. Alles, was wir tun, ist, das Gesetz durchzusetzen. So lautete das Argument. «Wir machen nichts Aussergewöhnliches.» Wenn es nichts Aussergewöhnliches ist, warum wurde dieses Gesetz in früheren Regierungen dann nicht angewendet? Und wieso gab es keine Aufzeichnungen? Wieso wurden die Vorgänge nicht dokumentiert, wenn es nichts Aussergewöhnliches ist? Wieso erfuhr man lange nichts davon, wieso wurde es abgestritten?

Was bedeutete es, Kinder von den Eltern zu trennen?

Es bedeutet genau dies: Du steckst Kinder und Eltern getrennt in Gewahrsam. Kinder wurden teilweise in Käfigen gehalten.

Und wir sprechen nicht nur von Teenagern?

Wir sprechen von stillenden Müttern, denen ihre Babys weggenommen wurden. Wenn Sie sich so etwas vorstellen können.

Sie haben Dokumentarfilme über Robert McNamara gemacht, Donald Rumsfeld, Steve Bannon. Die Trennungen von Familien an der Grenze scheinen nicht dieselbe Sprengkraft zu haben. Aber da werden Sie vermutlich widersprechen.

Ja, da widerspreche ich. Das hat wirklich tiefgreifende Auswirkungen. Wenn ich mich aus den Fenster lehnen wollte, würde ich sagen: Es ist nazihaft. Es enthält Elemente einer nationalsozialistischen Politik. Bemerkenswert ist, wie die Trump-Regierung glaubte, alles leugnen zu müssen. Als hätten sie selber gewusst, dass es schlecht ist, schlecht aussieht und verwerflich ist. Zuerst haben sie es geleugnet, dann versuchten sie sich herauszureden. Es sei ein kleines Problem. Faschismus ist niemals klein. Er ist hässlich, verabscheuungswürdig. Und wir sollten uns alle dessen bewusst sein und dagegen ankämpfen – oder etwa nicht?

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