Samstag, November 23

Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

27. Oktober

Sowohl in der Sowjetunion als auch in der Russischen Föderation sind regelmässig Wahlen abgehalten worden, aber nie innerhalb von hundert Jahren haben sie eine Verschiebung der Machtverhältnisse gebracht. In gar keinem Fall. Die sowjetischen und russischen Machthaber wurden entweder alt und starben eines natürlichen Todes, oder jemand anderes kam durch eine Palastrevolte an die Macht.

Die russischen Herrscher haben immer weitab von den Leuten existiert, sie standen über dem Volk, waren ihm gegenüber nicht rechenschaftspflichtig, und die Untertanen hatten so wenig Chancen, die Lage zu ändern, wie es Hühnern möglich ist, den Besitzer des Hühnerhofs abzusetzen, wenn sie sich denn entschliessen würden, Wahlen abzuhalten.

Heute Morgen unterhielt ich mich mit einem Militär darüber, wann dieser Krieg denn enden könnte. Als ich ihm sagte, dass wir auf dem Schlachtfeld gewinnen sollten, meinte er überraschenderweise, dass es dafür keine Chance gebe, solange «diese Kreatur» am Leben sei.

«Es müsste doch eine Person geben, die qualifiziert genug ist, ‹diese Kreatur› zu ermorden», sagte er. «Ich verstehe nicht, warum das noch niemand getan hat.»

Wir diskutierten einige Zeit lang über verschiedene Möglichkeiten, «diese Kreatur» zu ermorden, und kamen zu dem Schluss, dass es tatsächlich eine gute Strategie wäre, dies zu tun. Interessant ist, dass wir während unseres gesamten Gesprächs «diese Kreatur» nicht ein einziges Mal beim Namen nannten, als ob es sich um einen Lord Voldemort – den, der nicht genannt werden darf – und nicht um den russischen Präsidenten handelte.

Übrigens ist es gar nicht so schwer, über «diese Kreatur» zu sprechen, ohne sie beim Namen zu nennen. Es ist irgendwie sogar bequemer.

Es ist erwähnenswert, dass nicht allein Wahlen noch nie zu einem Austausch der Herrscher der Sowjetunion oder Russlands führten, sondern dass auch noch nie ein Attentat auf einen amtierenden Diktator des grössten Landes der Welt gelungen ist. Wir können also nur auf eine Palastrevolte oder einen natürlichen Tod hoffen.

Die übelsten und blutrünstigsten Kreaturen, die Russland regierten, kamen auf dieselbe Weise an die Macht: Jemand beschloss, eine farblose Person ohne Bedeutung ans Ruder zu bringen, damit sich möglichst nichts ändere. Dies geschah stets, um einen einflussreichen anderen, der eine Bedrohung darzustellen schien, von der Übernahme der Macht abzuhalten. Dann verwandelte sich das scheinbar harmlose Wesen in einen skrupellosen Tyrannen und begann, im Dienste einer grösseren, absoluten Macht zu agieren.

In den frühen zwanziger Jahren hielt niemand Stalin für einen möglichen Partei- und Staatsführer. 1922 wurde er zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei ernannt, damit Trotzki, ein echter Führer, nicht an die Schalthebel der Macht gelangen konnte. Von diesem Moment an begann Stalin, alle um ihn herum zu vernichten, auch diejenigen, die seinen Aufstieg ermöglicht hatten. Er liess jedoch nicht alle von ihnen umbringen. So wurden beispielsweise von 139 Mitgliedern und Kandidaten für das Zentralkomitee der Partei nur 110 gnadenlos ermordet. Die restlichen 29 überlebten.

Chruschtschow, ein engstirniger, aber energischer Mensch, wurde nach dem Tod Stalins von niemandem ernsthaft als möglicher Führer von Partei und Vaterland betrachtet. Aber er wurde allmählich an die Spitze des Zentralkomitees befördert, um ein Gegengewicht zum wachsenden Einfluss von Beria zu schaffen. Sobald Chruschtschow das Sagen hatte, begann er, seine Konkurrenten, aber auch seine Freunde auszuschalten, und bald schon war seine Macht so gut wie absolut.

Chruschtschow war es, der die kubanische Raketenkrise auslöste, die das Ende der menschlichen Zivilisation hätte bedeuten können. Er war es, der das U-Boot «B-59» mit Atomtorpedos an die Küste der USA schickte, ohne dass es genaue Anweisungen für den Einsatz hatte. Am 27. Oktober 1962 beschloss der Kommandant der «B-59», der der Meinung war, der Krieg habe bereits begonnen, einen Atomtorpedo auf den Erzfeind abzufeuern. Nur einer der ranghohen Offiziere, Wassili Archipow, weigerte sich, dies zu tun, und rettete damit den Planeten vor der nuklearen Apokalypse.

Als Putin, dem Wesen, das heute im Kreml sitzt, die Macht über Russland in die Hände gelegt wurde, war er zufällig der Niemand, den man brauchte, um den Demokraten Boris Nemzow zu verhindern. Seitdem hat Putin weiter um die absolute Macht gerungen und dabei immer mehr Blut vergiessen lassen.

Wirklich absolut, gnadenlos und unerbittlich wird seine Macht nach dem 17. März 2024 werden, wenn die Bewohner des Hühnerstalls den Besitzer des Hühnerhofs mit ziemlicher Sicherheit für die nächsten zehn Jahre wiederwählen werden.

Wenn es so kommt, werden wir sehen, wozu «die Kreatur» wirklich fähig ist.

Zur Person

PD

Sergei Gerasimow: Was ist der Krieg?

Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Es vereinigt Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der Beginn des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 399. Beitrag des vierten Teils.

Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.


Serie: «Kriegstagebuch aus Charkiw»

Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.

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