Die Integration der Technik in das Alltagsleben schreitet voran. Smarte Uhren wissen mehr über ihre Besitzer und deren Körper als diese selbst.

Vielleicht war es ja die alteuropäische Seite meiner Persönlichkeit, die sich gegen die Wearables aus den Maschinenhallen angloamerikanischer Konzerne sträubte. Mein ganzes bisheriges Sportlerleben zwischen Kraftraum, Dojo und Basketballplatz hatte ich jedenfalls auf Smartwatches, Schrittzähler und sonstige Tracking-Geräte verzichtet. Doch als ich im Jahr 2022 mein Lauftraining zu intensivieren und zu systematisieren begann, erwarb ich, zu meiner eigenen Überraschung, eine als überaus smart angepriesene Sportuhr mit einer Fülle von Funktionen. Seitdem führen wir eine enge Beziehung. Zwar handelt es sich um ein primär körperliches Verhältnis, doch es weist auch platonische Elemente auf.

Meine romantische Angst, unter dem Diktat der Uhr leide mein Körpergefühl, hat sich nicht bestätigt. Im Gegenteil. Ein Körpergefühl hat man nicht einfach, man entwickelt es im Dialog mit der Umwelt, auch der technischen. Meines erwies sich trotz grosser Sporterfahrung und Fitnesstrainer-Zertifizierung als trügerisch. So hatte ich mir eingebildet, mich im Alltag viel zu bewegen, genug zu schlafen, beim Laufen in hohe aerobe Bereiche vorzustossen. Die nüchtern meine Aktivitäten vermessende Uhr belehrte mich eines Besseren. Sie wurde zum Mythenzerstörer meines Selbstbetrugs. Technik kann helfen, die trügerischen von den realitätsnahen Gefühlen zu unterscheiden.

Nach der Uhr oder dem Gefühl?

Zugleich schärft die Sportuhr das Sensorium für die Defizite der Technik und das, was sich nicht quantifizieren lässt. Trägt man sie dauerhaft, betritt man ein Spiegelkabinett des Vergleichens zwischen Vermessung und Empfindung. Die Uhr behauptet, ich hätte schlecht geschlafen. Aber eigentlich fühle ich mich gut. Wer hat recht? Sollte ich mir selbst trauen? Oder dem Gerät? Mache ich mir selbst etwas vor, und profitiere ich von der Uhr als Korrektiv, oder macht mir die Uhr etwas vor, und ich profitiere von mir selbst als Korrektiv? Rede ich mir nur aus Trotz gegenüber der Uhr ein, mich gut zu fühlen? Über solche Fragen kann man verrückt werden. Man kann sie aber auch als philosophisches Realexperiment begreifen.

Lässt man sich auf dieses Experiment ein, so wird man am eigenen Leib feststellen, dass «Bewusstsein» kein geheimnisvolles Objekt im Innersten des Individuums ist, sondern Resultat komplexer Verhandlungsprozesse zwischen Ich und Welt. Und längst ist die Welt der Technik zur zweiten Natur geworden, ähnlich mächtig und allgegenwärtig wie die erste.

Doch die Natur hat ihre Unschuld verloren. Sie ist zur Kultur, zum Management-bedürftigen Projekt geworden – «natürliche Künstlichkeit», in den Worten des Philosophen Helmuth Plessner. In diesem Sinn sind unsere Körper nicht mehr gottgegebene Objekte, sondern kultivierbare Subjekte. An diesen Wandel erinnert die Sportuhr, wenn sie sich täglich mit Verhaltens- oder Trainingsvorschlägen meldet. Training verhält sich zum Körper wie der Pflug zum Feld.

Je näher mir die Technik rückt, desto existenzieller und unausweichlicher wird die Frage, was am Menschen denn eigentlich nicht durch Technik ersetzt werden kann. So hat mir die Sportuhr noch einmal in aller posthumanistischen Schärfe verdeutlicht, dass der Körper auch eine Maschine ist. In Teilen berechenbar, optimierbar, ein System voller elektrischer Ströme und mechanischer Apparate.

Doch die Betonung liegt auf «auch». Aus diesem System emergiert etwas, das nicht identisch ist mit seinen Strukturen – das, was wir etwas hilflos «menschlich» nennen. Die Faszination und Rätselhaftigkeit dieses «Etwas» spüre ich umso stärker, je mehr kühle Zahlenwerte die Sportuhr ausspuckt. Somit ist die Sportuhr ein durchaus philosophisches Gerät – wenn man bereit ist, sie als solches zu benutzen. Ein Preset gibt es dafür nicht.

Das Herz ist kein Uhrwerk

Die Sportuhr gibt aber nicht nur Nachhilfe in Anthropologie und Bewusstseinsphilosophie. Sie hält auch sozialphilosophische Lehren bereit. So ist die Messung der Herzfrequenzvariabilitäts-Rate zu meiner Lieblingsfunktion geworden. Das Wortungetüm im Nominalstil verweist auf einen überraschenden medizinischen Sachverhalt: Schlägt das Herz zu regelmässig, vergleichbar einem Uhrwerk, dann stimmt etwas nicht im Körper.

Variieren hingegen die Intervalle zwischen den Herzschlägen, ist das ein Zeichen für gute körperliche und vielleicht auch psychische Verfassung. Denn auf Bedrohungen reagiert das Herz mit Mobilmachung: Es wird zum Feldwebel, der einen harten Takt vorgibt. Anstatt zu tanzen, marschiert das Herz. Geht es uns hingegen gut, kann das Herz gelassen und differenziert auf die mannigfaltigen Abläufe in der Föderation unseres Körpers reagieren.

Ein Schelm, wer darin eine Parallele zur Politik sieht. Nachhaltige Stabilität des menschlichen Organismus wie auch politischer Systeme beruht nicht auf dem regelmässigen und autoritären Rhythmus einer Zentralgewalt, sondern im Gegenteil auf einer heilsamen Unregelmässigkeit, die sich aus der Partizipation diverser Bereiche ergibt. Stabilität bedarf der Dynamik und des Wandels. Überall im lebendigen Körper wie auch in der Gesellschaft und der Politik wird interveniert, repariert, aufgebaut und abgebaut, optimiert und entsorgt. Wie sollten solch komplexe Prozesse anders ablaufen können als im synkopen- und taktwechselreichen Rhythmus von Varianz und Differenz?

Wie aber verhält es sich mit den Zahlen, die unsere Existenz angeblich zu einem entfremdeten Projekt totaler Messbarkeit machen? Ist die Sportuhr nicht ein Spätausläufer jener «Mathematisierung», die politisch so unterschiedlich tickende Philosophen wie Martin Heidegger und Theodor W. Adorno kritisierten? Bin ich als Sportuhrträger zum entseelten «quantified self» geworden, zum nützlichen Idioten neoliberaler Selbstoptimierungsregime im stahlharten Gehäuse des Kapitalismus? Knapp zwei Jahre Beziehung mit der Sportuhr haben mir gezeigt, dass die vorgeblich entzauberte, zweckrationale Welt der Zahlen eine ironische Kehrseite hat. Mit Karl Marx gesprochen: Sie steckt voller metaphysischer Mucken.

Zugang zu kosmischen Geheimnissen

Über viele Jahrhunderte galten die Mathematik und die Zahlen als etwas Ehrwürdiges, ja Heiliges, ob in der griechischen Antike oder im christlichen Mittelalter. Ihr Studium sollte Zugänge zu den Geheimnissen des Kosmos und des Überirdischen öffnen. Das Leben nach Zahlen auszurichten, bedeutete, Ordnung im Chaos des Irdischen zu finden. So schrieb der neoliberaler Umtriebe eher unverdächtige Kirchenvater Augustinus: «Wenn ich die unveränderliche Wahrheit der Zahlen bei mir selbst betrachte und sozusagen ihre Lagerstätte und ihren innersten Raum oder ihren bestimmten Bezirk, oder welche geeignete Bezeichnung man sonst finden könnte, um sozusagen die bestimmte Wohnung und den Sitz der Zahlen zu benennen, dann gerate ich in grosse Entfernung vom Körper.»

Ich glaube, dass sich etwas von diesem Zahlenglauben in technischen Geräten wie der Sportuhr erhalten hat. Zahlen verheissen Zugang zu einer elementaren Ordnung und Wahrheit, die Distanz zur veränderlichen Welt des Materiellen und Körperlichen impliziert. Eine List der Vernunft konterkariert die permanente Revolution des Neoliberalismus und der «flüchtigen Moderne» (Zygmunt Bauman) ausgerechnet durch neoliberale Gadgets wie die Sportuhr.

Der Neoliberalismus jubiliert: Du kannst alles erreichen! Die Sportuhr sagt: Schlaf wieder einmal. Bringe deine Körperfunktionen in Balance. Und für einen Marathon unter vier Stunden bist du echt noch nicht bereit. Sorry. Habe ich berechnet. In der körperlichen Selbstoptimierung nach Zahlen begegnen sich so der rationelle, dynamische Materialismus der westlichen Moderne – alles wird optimiert und transformiert – und die Stabilität suchende vormoderne Zahlenmystik. Selbst der Entzauberung wohnt ein Zauber inne.

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