Dienstag, November 5

Kiew will die Armee stark vergrössern, um Verluste zu ersetzen. Doch viele Männer im Land verstecken sich, und die Militärbehörden bekommen die Korruption nicht in den Griff.

Seit mehr als zweieinhalb Jahren verteidigen sich die Ukrainer gegen eine russische Übermacht. 1,5 Millionen Mann hat Moskau unter Waffen, 900 000 weitere dienen als zivile Mitarbeiter der Armee. Nun will Kiew nachziehen: Vergangene Woche kündete der Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrats die Mobilisierung von zusätzlichen 160 000 Mann an. Damit, so Olexander Litwinenko, betrüge die Gesamtgrösse der Streitkräfte etwa 1,2 Millionen Mann.

Wie dringend die Ukraine zusätzliche Soldaten braucht, zeigt der stark beschleunigte Vormarsch der Russen gegen ausgedünnte Brigaden an der Front. Laut Litwinenko wären die Einheiten der Armee selbst mit der zusätzlich geplanten Rekrutierung erst zu 85 Prozent aufgefüllt.

Mehrere hunderttausend tote Soldaten

Das lässt die riesigen Verluste erahnen, besonders bei der Infanterie, auf beiden Seiten. Recherchen, die sich auf Todesanzeigen, Friedhöfe und Sterberegister stützen, haben bisher 74 000 russische Gefallene dokumentiert. Dies sind höchstens zwei Drittel der wahren Verluste, da Vermisste nicht einberechnet werden. Aus Kiew zitierte das «Wall Street Journal» kürzlich eine vertrauliche Schätzung von bis zu 80 000 Mann.

Das wären zwar immer noch erheblich weniger als beim Gegner. Doch die ukrainische Bevölkerung ist nur ein Drittel so gross wie jene Russlands, und Kiew kann nicht einfach Söldner oder Nordkoreaner im Ausland einkaufen. Die Mobilisierung der eigenen Bevölkerung ist der einzige Weg, den Krieg weiterzuführen.

Doch die Probleme bei dieser Mammutaufgabe wachsen. Präsident Selenski redete den Mangel an Soldaten so lange klein, bis er Ende 2023 akut wurde. Danach brauchte die Politik in Kiew immer noch ein halbes Jahr, um ein neues Mobilisierungsgesetz zu beschliessen. Seit Mai können Männer ab 25 statt ab 27 Jahren in den Kampf geschickt werden, die Stellungspflichtigen müssen sich digital registrieren. Die Strafen für Wehrdienstverweigerer wurden erhöht.

Die Neuerungen führten zunächst zu einer starken Erhöhung der Rekrutierungen. Über den Sommer zogen die Streitkräfte monatlich 30 000 Mann und mehr ein. Doch im September und im Oktober gingen die Zahlen wieder stark zurück, auf 20 000 und 21 000 Mann, den Stand vor der Verabschiedung des Gesetzes. Laut ukrainischen Militärexperten reicht dies kaum, um die Verluste zu ersetzen.

Bis Ende Jahr sollen 200 000 neue Soldaten zusammenkommen. Bereits das gilt als ambitioniert, denn die Wirtschaft klagt über akuten Personalmangel, viele Männer verstecken sich vor den Rekrutierern. Jahrzehntelange tiefe Geburtenraten sowie Bevölkerungsverluste durch russische Besetzung, Flucht und Krieg haben das Reservoir an wehrfähigen Männern verringert. Die nun darüber hinaus angekündigten zusätzlichen 160 000 Mann sind deshalb höchstens über einen längeren Zeitraum realistisch. Eine Quelle der BBC in Kiew bezeichnete die Zahl als obere Grenze des Möglichen.

Ukrainer kaufen sich vom Militärdienst frei

Eine offene Frage ist allerdings, ob diese zusätzlichen Soldaten adäquat ausgerüstet und ausgebildet werden können. Die Ukraine will vierzehn neue Brigaden aufstellen, hat aber laut Wolodimir Selenski nur Material für drei. Vor allem Panzerfahrzeuge fehlen. Neue Truppen, die an der Front ihre erschöpften Kameraden ablösen sollen, sind oft schlecht ausgebildet und deshalb keine grosse Verstärkung.

Zu den ungelösten Grundproblemen des Rekrutierungssystems gehören auch die Korruption und die Willkür der Stellungsbehörden. Sie untergraben das Vertrauen und verringern die ohnehin sinkende Bereitschaft zum Militärdienst weiter: Die Rekrutierer erfüllen ihre Quoten teilweise, indem sie wahllos Männer auf der Strasse einsammeln und in die Armee verfrachten. In Kiew sorgte jüngst eine Razzia vor dem Konzert der beliebten Rockband Okean Elzy für grosse Aufregung.

Gleichzeitig ist es ein offenes Geheimnis, dass sich Männer mit Geld und Beziehungen freikaufen können. Zwar entliess Selenski letztes Jahr nach Skandalen pauschal alle Leiter der regionalen Militärkommissariate. Dadurch ging aber auch Kompetenz verloren, die Posten gelten als Schleudersitze. Das Problem der Korruption löste der präsidentiale Aktivismus nicht: In den vergangenen Wochen stellten Ermittler in verschiedenen Regionen umgerechnet mehrere Millionen Franken an Bestechungsgeldern sicher.

Einkassiert hatten sie die Leiter der sogenannten medizinisch-sozialen Kommissionen: Diese bestimmen, ob Männer diensttauglich sind. Für ablehnende Berichte liessen sie sich teilweise fürstlich entlohnen. Die Regierung in Kiew reagierte im Oktober erneut hektisch und löste die Kommissionen per Ende Jahr auf. Für 2025 verspricht sie nun «ein transparentes digitales europäisches Modell». Details bleiben rar.

Kiews neuen Soldaten fehlt die Motivation

Doch es gibt keine einfachen Lösungen. Die Bürokratie des ukrainischen Verteidigungsministeriums gilt als notorisch reformresistent, in manchen Gängen weht weiterhin ein sowjetischer Geist. Die Verluste seit Kriegsbeginn verschärften das Problem, zumal viele der modernsten und bestorganisierten Einheiten an vorderster Front kämpfen.

Manche von ihnen finden durch geschicktes Marketing und das Versprechen, eine anständige Ausbildung und Ausrüstung zu gewährleisten, weiterhin Freiwillige. Doch dieses Reservoir schrumpft rapide, besonders wenn es um den Einsatz bei der Infanterie an der Front geht. Um diese Einheiten einigermassen kampffähig zu halten, muss die Militärführung immer häufiger Zwang anwenden.

Das bleibt nicht folgenlos. Der britischen Zeitung «Financial Times» berichteten Kommandanten im Donbass jüngst, die Hälfte oder mehr der neu Mobilisierten würden in den ersten Tagen an der Front getötet oder verwundet. Auch die Zahl der Deserteure steigt: Laut an die Öffentlichkeit gelangten Dokumenten betrug sie in den ersten acht Monaten dieses Jahres fast 50 000.

Als Land mit einer liberalen Gesellschaftsordnung und aufmüpfigen Bürgern kann die Ukraine aber nur bis zu einem gewissen Grad auf Zwang setzen, ohne dass der Widerstand zu gross wird. Hier hat die Diktatur Russland einen grossen Vorteil: Sie setzt auf eine Kultur der Gewalt in der Armee, die jedes Aufbegehren im Keim erstickt.

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