Mit der Wahl Donald Trumps ist eine neue Dynamik in den Kampf um die Ukraine gekommen. Der amerikanische Präsident scheint einen Frieden um jeden Preis anzustreben, er schmeichelt Putin und droht Selenski. Dieser aber ist sperriger, als geduldet werden kann.
Der Fluss der Geschichte, der in den vergangenen Jahren schon trübe, dreckig und blutig daherkam, gerät jetzt, mit dem Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten, in erhebliche Turbulenzen. Wirbel, die in unerwartete Richtungen ausgreifen, folgen schnell aufeinander, so dass vernünftige Voraussagen unmöglich werden. Morgen kann alles passieren, und dieses «alles» hängt nicht davon ab, was heute oder gestern geschehen ist. In diesem Fluss jedoch gibt es Grundkonstellationen, die unabhängig vom allgemeinen Chaos sind.
Eine davon ist die Abneigung des neuen amerikanischen Präsidenten gegen Wolodimir Selenski.
Ein Kantholz auf die Nase
Laut Berichten hat sich Selenski später doch noch bei Trump entschuldigt. Weiss jemand, wofür? Sie baten ihn ins Weisse Haus, schrien ihn an, liessen ihn wissen, dass er nicht richtig angezogen sei, zeigten ihm dann die Tür, und das vorbereitete Essen blieb stehen.
Aber selbst nachdem Selenski sich entschuldigt hatte, sagte die Pressesprecherin des Weissen Hauses, Caroline Leavitt, dass Trump ihn zu Recht «in die Schranken gewiesen» habe, und Keith Kellogg gab zum Besten, es sei mit Selenski etwa so gewesen, «als habe man einem Maultier mit einem Kantholz auf die Nase geschlagen», was eine ziemlich schmerzhafte Sache ist. Doch egal, ob er um Verzeihung gebeten hat oder nicht, Selenski hat sich im Oval Office nicht respektiert gefühlt.
Manche ukrainische Kommentatoren meinten, Selenski hätte versuchen sollen, Trump mit plumpen Schmeicheleien einzuseifen, so wie es Putin mehrfach getan hat, indem er Trump ein Genie oder einen superschlauen Dealmaker nannte. Als guter Schauspieler wäre Selenski dazu problemlos in der Lage gewesen. Aber meiner bescheidenen Meinung nach hätte er etwas ganz anderes tun sollen.
Selenski hätte einen schönen Anzug anziehen und sagen sollen, dass in seinem Land ein blutiger Krieg tobe und er mit seiner feldgrünen Kämpferkluft Solidarität mit den an der Front kämpfenden und sterbenden Soldaten zeige, aber heute sei der Tag, an dem er eine Ausnahme mache: aus Respekt vor Amerika, vor seinem grossen Volk und vor dem Präsidenten dieses grandiosen Landes.
Dann hätten weder Trump noch Vance irgendwelche Karten gehabt.
Es gibt einen himmelweiten Unterschied zwischen Schmeichelei und Respekt. Man kann nicht jemanden respektlos behandeln, der einen wirklich respektiert. Man kann ihn nicht einladen, ihn dann anschreien, ihn hinauswerfen und ihm damit das Essen vorenthalten.
Es gibt eine Million Dinge, echte und keineswegs erfundene, für die man den USA Respekt zollen sollte. Selenski hätte die ganze Zeit nur darüber sprechen sollen. Wenn er nicht wüsste, wie man das macht, hätte ihm sein Team, das sich an diesem Tag hilflos zeigte, das Video von Emmanuel Macrons Rede vor dem US-Kongress im Jahr 2018 zeigen können. Diese berühmte Rede des französischen Präsidenten mit dem Titel «Es gibt keinen Planeten B», die fünfzig Minuten dauerte, bestand aus etwa zwanzig Minuten Applaus, aus fünfzehn Minuten Respektsbekundung gegenüber Amerika und den Amerikanern sowie aus nur fünfzehn Minuten relevantem Inhalt. Aber genau deshalb war es eine grossartige Rede.
Und das gilt auch für Russland. Ungeachtet dessen, was das Land momentan anstellt, gibt es eine Million Dinge, für die man es respektieren sollte. Wenn die Ukraine dies in den letzten zwanzig Jahren öfter thematisiert hätte, hätte Putin trotzdem einen Krieg begonnen, aber er wäre nicht so hässlich und blutig gewesen.
Und wenn die Ukraine den Menschen im Donbass konsequent Respekt entgegengebracht hätte, hätte Putin seinen Appetit auf die Krim beschränkt, und es wäre nie zu einem ausgewachsenen Krieg gekommen.
Und wenn die ukrainischen Präsidenten und Regierungen ihr eigenes Volk wirklich respektiert hätten, was sie nie taten, hätte Putin sich auch nicht die Krim unter den Nagel reissen können. Denn die Krim-Bewohner hätten «die grünen Männer» einfach hinausgeworfen.
Aber jetzt sind wir da, wo wir sind. Der Krieg tobt nun schon seit mehr als drei Jahren. Trump, Musk, Vance und viele andere aus der amerikanischen Elite betrachten Selenski als Witzfigur und würden ihn gerne ersetzen.
Selenski ist ihnen aus zwei Gründen zuwider. Erstens ist er nicht höflich beziehungsweise unterwürfig genug. Zweitens: Er lässt sich nicht zerbrechen.
Weder Trump noch Putin haben eine Ahnung, wie man mit solchen Menschen umgeht. Sie ziehen es vor, sich mit Leuten zu umgeben, denen man leicht das Rückgrat bricht oder dies schon mehrfach getan hat – Leuten, die biegsam sind und jede Form annehmen können, so als wären sie aus Knetmasse geformt. Solche Leute haben sie im Sack, Selenski aber stellt sie vor Probleme. Ratlosigkeit breitet sich aus, und ihm jedes Mal mit einem Kantholz auf die Nase zu hauen, ist nicht «comme il faut».
Den Präsidenten austauschen
Putins Ziel ist es, die Ukraine entweder zu Russland oder zu Weissrussland zu machen. Wenn sie nicht Russland wird, dann zumindest Weissrussland. Letzteres ist weit einfacher: Es genügt, den «falschen» gegen den «richtigen» Präsidenten auszutauschen.
Der zielführende Algorithmus sieht folgendermassen aus: einen ausreichend langen Waffenstillstand arrangieren, Wahlen ansetzen, den richtigen Kandidaten einschleusen und den richtigen Präsidenten wählen. Putin weiss sehr gut, wie er diesen Prozess so organisieren kann, dass das Ergebnis garantiert ist. Es können 90 Prozent Zustimmung sein oder auch 99. Ganz nach seinem Gusto. Wenn Selenski, der vom ukrainischen Volk gewählte Präsident, illegitim erscheint, dann soll der von Putin und Trump auserkorene Präsident noch viel legitimer sein.
Die Reaktion meiner Bekannten auf eine mögliche Präsidentschaftswahl ist ungefähr dieselbe:
- «Ich habe bisher für Selenski gestimmt (oder auch nicht), aber bei der nächsten Wahl werde ich einzig ihn unterstützen.»
- «Es wäre doch seltsam, wenn die beiden alten Knacker Selenski loben würden. Solange sie ihn mit Dreck bewerfen, ist mit ihm alles in Ordnung.»
- «Ich wünschte, wir könnten Selenski zum Präsidenten Russlands machen!»
Das Problem ist, dass Selenski womöglich nicht kandidieren darf, genau das könnte Teil des Friedensabkommens sein.
Durch den Türspalt
Auf jeden Fall dürften wir uns auf den Frieden zubewegen. Und dies auf einer seltsamen Bahn. So wie ein Blinder in einem unbekannten Raum, aber wir bewegen uns trotzdem, und Frieden ist eine gute Sache.
Selenski durfte an den Verhandlungen in Saudiarabien nicht teilnehmen, er konnte quasi nur durch den Türspalt spähen. Dennoch haben die Verhandlungen Ergebnisse gezeitigt. Nun wird Putin in den Augen der Welt einmal mehr als blutrünstiger Tyrann erscheinen, wenn er dieses Ergebnis nicht akzeptiert.
Wenn er sich verweigert, wird er der ganzen Welt zeigen, dass er Trump nicht respektiert, und dann wird Trump auch noch dem Kreml-Diktator mit einem Kantholz auf die Nase schlagen müssen. Mal sehen, ob der amerikanische Präsident das wirklich tun wird oder ob er es vorzieht, Putin mit einem Grashalm die Nase kitzelt.
Auf die Frage, ob er Druck auf Putin ausüben werde, wenn dieser einem Waffenstillstand mit der Ukraine nicht zustimme, sagte Trump: «Wir können dies tun, aber ich hoffe, dass es nicht notwendig sein wird», und er fügte hinzu: «Ich kann finanzielle Dinge tun, die für Russland sehr übel wären.»
«Wir können» oder «ich kann» – das ist kein Versprechen. Aber wir werden sehen.
Am Strand des Friedens
Auf jeden Fall scheint uns der turbulente Fluss der Geschichte an einen kleinen Strand des Friedens zu spülen, schmutzig und übersät mit frischen menschlichen Knochen, aber Frieden ist eine gute Sache.
Auf dem Weg dahin geschehen jedoch seltsame und beängstigende Dinge. Trumps Behauptung etwa, dass nicht Russland diesen Krieg begonnen habe, sondern die Ukraine, ist erschreckend.
Unsere Zeit ist eine Zeit der langen, verdrehten Zungen, die von der Vorspiegelung falscher Tatsachen bis zu offenen Lügen, von fieser Manipulation bis zu der Behauptung reicht, dass «Russland nicht in die Ukraine einmarschiert» sei. Der psychologische Begriff für diese Art von notorischer Täuschung ist noch nicht erfunden worden.
Erinnern wir uns an den Moment, als die Kongressabgeordnete Jasmine Crockett sagte: «Herr Präsident, wissen Sie was? Russland ist in die Ukraine einmarschiert. Können wir uns wenigstens in diesem Punkt einigen? Fakten sind wichtig. Gibt es hier irgendjemanden, der den Mut hat zu sagen: ‹Russland hat die Ukraine erobert›?»
Es stellt sich heraus, dass es nach drei Jahren Krieg in einem so zivilisierten und aufgeklärten Land wie den USA tatsächlich Leute gibt, die noch nicht wissen, wer wen angegriffen hat – und diese Leute werden gar zum stellvertretenden Verteidigungsminister ernannt. Nicht zum Assistenten des zweiten Hausmeisters, sondern zum stellvertretenden Verteidigungsminister.
Ich denke, es war ein historischer Moment, als auf die Worte von Jasmine Crockett hin in einem so freien Land wie den USA nicht eine einzige Person den Mut aufbrachte, die so offensichtliche Tatsache zu vertreten, dass zwei mal zwei vier ist.
Woher nehmen die Amerikaner diese Unterwürfigkeit gegenüber Autoritäten? Schliesslich stehen sie nicht unter dem Druck einer jahrtausendelangen negativen genetischen Selektion wie die Menschen in Russland und der Ukraine. Sie wurden noch nie umgebracht, weil sie die Wahrheit sagten, oder inhaftiert, weil sie ihre Meinung äusserten.
Trump wie Putin tun das Gleiche: Beide räumen die Unerwünschten beiseite und lassen nur die Kriecher gedeihen, damit die Leute Angst haben. Gewiss ist der Mensch schwach und feige. Und doch braucht es jene, die in der Lage sind, die Wahrheit zu sagen und ein reines Gewissen zu haben. Sie sind so selten wie gewisse Eulen auf der Roten Liste der aussterbenden Arten. Es ist bedenklich, dass Menschen, von denen die Zukunft der Welt bis zu einem gewissen Grad abhängt, sich so leicht unter Druck setzen lassen, als wären sie aus weicher Knete.
Eine andere Version der Wahrheit
Oder geht es hier vielleicht gar nicht um Feigheit? Könnte es etwas anderes sein? Wie kann man eine Giraffe direkt vor Augen haben und behaupten, dass sie eine Maus sei? Wie kann man sagen, dass die Ukraine den Krieg begonnen habe, wenn wir doch alle die Bilder des russischen Einmarsches vor drei Jahren gesehen haben?
Vielleicht handelt es sich gar nicht um eine Lüge, sondern um eine andere Version der Wahrheit? Um keinen Missbrauch der Logik, sondern lediglich um eine andere Version der Logik? Aber dann wird es noch erschreckender, denn diese Version der Logik sieht wie folgt aus:
Wenn du dich beleidigt fühlst, hat der Beleidiger recht, weil er stark ist. Der Gekränkte soll besser seine Ansprüche gegen die Natur geltend machen, die ihn dermassen schwach gemacht hat. Es gibt Stärke, es gibt starke Führer, und es gibt das Recht des Stärkeren. Und das ist alles, was zählt. Kleinigkeiten wie Freiheit, Demokratie, Wahrheit, Gerechtigkeit und Recht sind nur Fesseln, die einen am Vorwärtskommen hindern. Vorwärts heisst: Grönland gehört uns, Kanada gehört uns, und der Panamakanal gehört auch uns, aber das ist nur der Anfang. Später werden wir sehen, was sonst noch unser Eigentum ist.
Am 5. März trat der amerikanische Senat zusammen. Senator Michael Bennet sprach während der Sitzung und sagte weise, aber naive Worte über die Ukrainer, die nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Demokratie, für die Freiheit und für Europa kämpften.
In der neuen Version der Wahrheit sind dies die vier Dinge, die man besser unterlässt: Man soll nicht für die Ukraine kämpfen, man soll nicht für die Demokratie kämpfen, nicht für Europa und nicht für die Freiheit.
Und dann passt alles zusammen für den starken Führer.
Was aber macht Europa, für das niemand mehr kämpfen will? Ein Europa, das sich seit vielen Jahren von Putin an der Nase herumführen lässt?
Europa hat seine Kräfte gesammelt, es ist mächtig geworden und gibt sich entschlossen, und jetzt spielt es mit Putin wild und entschlossen: Kuckuck.
Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.