Freitag, Oktober 18

Trotz Krieg verzeichnen Russland, die Ukraine und Ostmitteleuropa bemerkenswerte Wachstumsraten. Hinter diesen Zahlen verbergen sich aber ernsthafte Probleme.

Der Krieg in der Ukraine erschüttert seit zweieinhalb Jahren die Grundfesten Osteuropas – militärisch, politisch und gesellschaftlich. Wirtschaftlich reichen seine Schockwellen aber nicht sehr weit über Russland und die Ukraine heraus: Die EU-Mitglieder der Region haben sich damit arrangiert.

Die Herbstprognose des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) zeigt eine bemerkenswerte Robustheit der Volkswirtschaften in Ostmittel- und Osteuropa. Trotz Krieg im Osten und Industriekrise im Westen wachsen die EU-Mitglieder in der Region laut dem Institut dieses Jahr durchschnittlich um 2,2 Prozent. Das ist zwar eine Abschwächung gegenüber der Vorhersage im Sommer, aber immer noch dreimal so viel wie in der gesamten EU. Noch stärker expandieren Russland und die Ukraine mit 3,8 und 2,7 Prozent.

Russland wächst wie nie seit Kriegsbeginn

Die Kriegswirtschaft beschert Russland dabei das höchste Wachstum seit Beginn seines Angriffskrieges gegen den Nachbarn. Die Hoffnung des Westens, Moskau mit Sanktionen gegen Ölexporteure, Banken und Technologiefirmen in die Knie zu zwingen, hat sich bisher nicht erfüllt. Stattdessen musste das WIIW die Prognose gegenüber dem Sommer sogar noch einmal erhöhen.

Wie der Direktor des Instituts, Richard Grieveson, im Gespräch erklärt, ist Russlands Rüstungsindustrie zum Haupttreiber des Wachstums geworden. Der Staat gibt dieses Jahr umgerechnet fast 93 Milliarden Franken für sein Militär aus. Das sind 6,2 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Für 2025 ist eine weitere Erhöhung um umgerechnet 27 Milliarden Franken budgetiert.

Dennoch glauben Analysten nicht, dass Russland dieses Tempo 2025 beibehalten kann. Für 2025 rechnet das WIIW noch mit einem Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent. Die Anzeichen einer Überhitzung zeigen sich nicht zuletzt im Mangel an Arbeitskräften: Die Männer des demografisch ohnehin schwachen Landes werden mit riesigen finanziellen Anreizen in die Armee gelockt und fallen zu Zehntausenden an der Front. Dafür fehlen sie in den Fabriken und Büros.

Dazu kommt, dass die westlichen Sanktionen nicht wirkungslos sind. So beobachtete das WIIW seit Jahresbeginn einen Rückgang der russischen Warenimporte um rund 8 Prozent. Dies habe mit Problemen bei der Abwicklung der Zahlungen zu tun: Banken in Partnerländern wie China verzögerten diese zunehmend, aus Angst, von den USA mit Sekundär-Sanktionen belegt zu werden. «Auch die Türkei steht unter grossem Druck, ihre Exporte nach Russland zu verringern», sagt Grieveson.

In der Ukraine ist das Geld knapp – trotzdem wächst sie

Den Ukrainern hilft dies kaum, weil Moskau trotz seinen Problemen noch lange in der Lage ist, den Krieg zu finanzieren. Russlands Budgetdefizit liegt 2024 bei 1 Prozent – jenes der Ukraine fast zwanzigmal höher. Kiew kann den Kampf nur weiterführen, weil der Westen alle nichtmilitärischen Ausgaben finanziert. Dennoch musste das Parlament in den letzten Wochen hastig Steuererhöhungen und Zusatzausgaben beschliessen, um ein akutes Finanzierungsloch von umgerechnet 10 Milliarden Franken bei der Armee zu vermeiden.

Ähnliche Probleme wie Russland haben auch die Ukrainer – allerdings in verstärkter Form, etwa wenn es um knappe Arbeitskräfte geht. Zudem wird ihr Territorium grossflächig bombardiert. 2024 zerstörte Moskau den Grossteil der Energieproduktion. Auch Fabriken und Häfen geraten ins Visier der Raketen. Dazu kam zu allem Überfluss eine sommerliche Dürre, die den Export von Landwirtschaftsprodukten 2025 verringern wird.

Weil dieser zentrale Sektor geschwächt ist, verringert das WIIW seine Prognose für 2025 von 4 auf 3,3 Prozent. Allerdings sind diese Zahlen mit einiger Unsicherheit verbunden, da sie vom weiteren Verlauf des Krieges abhängen. Auch die Stabilität des Strom- und Wärmenetzes im Winter ist entscheidend: Bricht es unter Russlands Attacken zusammen, wird die Wirtschaft noch grössere Verluste erleiden. Auch eine weitere Fluchtwelle wäre wahrscheinlich.

Dennoch schafft der Krieg auch Wachstum. Laut Olga Pindyuk, beim WIIW verantwortlich für das Ukraine-Kapitel, stammt der Effekt einerseits von den hohen Löhnen der Frontsoldaten, andererseits von der Förderung der Rüstungsindustrie. «Beides hat aber keine entscheidende Wirkung auf die Wirtschaft, da die Bereiche vergleichsweise klein sind», sagt die Ökonomin.

Um mehr Einnahmen zu generieren, denkt der ukrainische Staat inzwischen laut darüber nach, den seit 2022 verbotenen Export von Waffen wieder zuzulassen. Experten schätzen die Kapazität der Rüstungsindustrie auf etwa 20 Milliarden Dollar, von denen das Verteidigungsministerium bisher nur etwa ein Drittel aufkauft. Vor allem bei Drohnen ist die ausländische Nachfrage nach ukrainischer Expertise gross.

Ostmitteleuropa hat sich an den Krieg gewöhnt

Die Wirtschaften der östlichen EU-Länder zeigen sich erstaunlich unbeeindruckt angesichts der brutalen Kämpfe in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Wie Richard Grieveson ausführt, litt das Wachstum dort zwar im vergangenen Jahr unter der Teuerung und den hohen Energiepreisen, vor allem wegen der unsicheren Liefersituation aus Russland. «Es ist wirklich bemerkenswert, wie klein der negative Einfluss des Krieges ist», sagt er.

Am Beispiel von Polen, dem Land mit dem stabilsten Wachstum in der Region, lasse sich zeigen, wie mehrere positive Effekte zusammenkämen, so der Ökonom: Die Wirtschaft wächst und lässt die Löhne steigen, unter der neuen Regierung fliessen die EU-Fördergelder wieder, und die Zinsen sinken. «Der private Konsum ist in den EU-Mitgliedsländern Ostmitteleuropas der wichtigste Wachstumstreiber», resümiert er.

Dass nicht nur Polen, sondern die ganze Region 2024 und 2025 ökonomisch kräftig expandiert, ist umso bemerkenswerter, als Deutschland in einer schweren Krise steckt. Viele der östlichen EU-Mitgliedsländer verfügen über eine Wirtschaft, die stark von der deutschen Industrie abhängig ist, vor allem im Autobereich. Obschon sie den Abschwung spüren, können sie ihn anderswo wettmachen.

Laut Grieveson ist diese Entkoppelung neu. «Lange hätten wir gesagt, die Region kann ohne Deutschland nicht wachsen. Doch seit etwa eineinhalb Jahren tut sie dies sehr robust» – trotz Krise beim grossen Nachbarn. Grieveson glaubt dennoch, dass die regionalen Wirtschaften Probleme bekommen, wenn sich Deutschland nicht in den nächsten zwei Jahren erholt. Bis jetzt kann ihnen weder Krieg noch Krise etwas anhaben. Doch die Risiken bleiben, besonders, wenn sich die geopolitische Lage weiter verschlechtern sollte.

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