Mittwoch, Oktober 2

Die Ukraine darf ihre westlichen Raketen nicht für Angriffe im Innern Russlands verwenden. Diese Einschränkung wird von Militärexperten seit langem kritisiert. Nun erwägen die USA, das Verbot zu lockern.

Bereits zum zweiten Mal seit seiner Wahl im Juli hat sich der britische Premierminister Keir Starmer in Washington mit dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden zu Beratungen getroffen. Eines der wichtigsten Gesprächsthemen am Freitag war die Frage, ob man der Ukraine eine Ausweitung ihrer Luftangriffe auf russische Ziele gestatten soll oder nicht. Bis anhin war die Ukraine mit einem klaren Verbot konfrontiert. Während Russland praktisch täglich die Ukraine mit Luftangriffen heimsucht, darf Kiew umgekehrt keine westlichen Waffen gegen Ziele im russischen Hinterland einsetzen. Der Hauptgrund sind Eskalationsängste, die vor allem in Washington und Berlin geäussert werden.

Die Briten stehen einer Lockerung seit langem offen gegenüber. Die von ihnen gelieferten Marschflugkörper des Typs Storm Shadow könnten dank ihrer hohen Reichweite von bis zu 500 Kilometern zahlreiche russische Militärstützpunkte treffen, von denen aus die Ukraine angegriffen wird. Aber die amerikanische Regierung als Anführerin der Ukraine-Allianz hat schon früh ihr Veto gegen solche Einsätze eingelegt. Nun scheint sie bereit zu einem Kompromiss, nach monatelangem Drängen der ukrainischen Führung, verschiedener Nato-Staaten und von Hardlinern im Kongress.

Biden und Starmer verrieten nach ihrem Treffen nichts darüber, ob eine Entscheidung gefallen oder lediglich näher gerückt ist. Aus militärischer Sicht spricht ohnehin nichts dafür, einen solchen Beschluss an die grosse Glocke zu hängen. Aber britische und amerikanische Medien berichteten vorab über die Grundzüge einer Einigung, die die Aussenminister der beiden Länder vorangetrieben haben sollen. Dieser Kompromiss sieht vor, dass die USA ihren Widerstand gegen Storm-Shadow-Einsätze im russischen Hinterland aufgeben. Dies würde auch für die baugleichen französischen Marschflugkörper des Typs Scalp gelten. Für weitreichende Präzisionswaffen aus amerikanischer Produktion soll das Verbot aber in Kraft bleiben.

Dies betrifft vor allem die sogenannten Atacms-Raketen, die je nach Version 165 oder 300 Kilometer weit fliegen. Die Ukrainer haben sie seit der erstmaligen Lieferung im vergangenen Herbst erfolgreich gegen russische Luftwaffenstützpunkte und Flugabwehranlagen eingesetzt – aber nur in den besetzten Territorien, nie auf international anerkanntem russischem Staatsgebiet.

Biden hält damit an seinem vorsichtigen Kurs fest und lockert die Einsatzregeln wohl nur ein Stück weit. Einen ersten Schritt in diese Richtung hatte er bereits im Mai getan. Damals erlaubte er den Ukrainern, amerikanische Waffen zur Abwehr russischer Angriffe in unmittelbarer Grenznähe zu verwenden. Dies hatte sich aufgedrängt, weil die Russen bei ihrer Offensive in Richtung Charkiw bis an die Grenze aufmarschieren konnten, ohne ukrainische Gegenschläge mit westlichen Waffen befürchten zu müssen. Seitdem können die Ukrainer mit ihren Himars-Raketenwerfern rund 80 Kilometer über die Grenze schiessen, aber nicht mit den weiterreichenden Atacms-Raketen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Einschränkungen für die amerikanischen Atacms nicht auch bald fallen werden. Es ist typisch für Biden, die russische Reaktion zuerst zu testen, indem er die Verbündeten vorlässt. Er bewilligte die Lieferung amerikanischer Kampfpanzer erst, nachdem die Europäer ihre eigenen Panzer-Arsenale geöffnet hatten, spielte innerhalb der Nato den Bremser beim Transfer von F-16-Kampfjets und erlaubte Atacms-Angriffe auf die besetzte Krim erst, nachdem die Ukrainer dort mehrmals mit britischen Marschflugkörpern zugeschlagen hatten.

Auch jetzt werden die russischen Reaktionen aufmerksam verfolgt. Präsident Putin drohte am Donnerstag mit nicht weiter konkretisierten Gegenmassnahmen, falls weitreichende Präzisionswaffen aus westlicher Produktion zum Einsatz kämen. Putin stellte dies in einem Fernsehinterview als gravierende Eskalation dar. Er behauptete, die Ukrainer könnten solche Waffen nicht allein bedienen, insbesondere die Zielprogrammierung müsse durch Nato-Personal vorgenommen werden. Daher würden die beteiligten Nato-Staaten zu Kriegsparteien, was die «Natur des Krieges» wesentlich verändere.

Putins Worte waren offensichtlich nicht nur ans heimische Publikum gerichtet, sondern sollten auch die Eskalationsängste im Westen schüren. Aber inhaltlich krankt seine Aussage an Widersprüchen. Erstens können die Ukrainer die Atacms-Raketen selbständig abfeuern; wenn sie dabei auch Informationen der amerikanischen Aufklärung nutzen, macht dies die USA noch nicht zur Kriegspartei. Zweitens bombardieren die Ukrainer bereits seit Juni 2023 mit Storm-Shadow-Marschflugkörpern Ziele auf der besetzten Krim. Die von Russland annektierte Halbinsel ist jedoch aus Moskauer Sicht genauso russisches Staatsgebiet wie der Rest des Landes. Die nun von Putin gezogene «rote Linie» wirkt deshalb unlogisch.

Der amerikanische Präsident und sein britischer Gast gaben sich im Weissen Haus denn auch gelassen. Putin werde sich in diesem Krieg nicht durchsetzen, betonte Biden. Premierminister Starmer bekräftigte, dass die Ukraine das Recht zur Selbstverteidigung gegen die völkerrechtswidrige russische Invasion habe. Wann, wo und mit welchem Effekt die ersten Storm Shadows auf russischem Boden niedergehen werden, bleibt abzuwarten. Um eine kriegsentscheidende Waffe handelt es sich nicht, da die entsprechenden Bestände eng begrenzt sind.

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