Samstag, September 28

Die Dokumentation zeigt russische Soldaten auch als Opfer. Dass man aus ukrainischer Perspektive darauf verzichten kann, ist verständlich. Doch darf das nicht zu Zensurversuchen führen.

Niemand soll den Film sehen. «Russians at War» wird auf offensichtlich ukrainischen Druck hin nicht am Zurich Film Festival (ZFF) gezeigt. Das hinterlässt einen Nachgeschmack. Es stellt sich die Frage, wie drastisch sich offizielle Stellen eingemischt haben.

Die Kriegsdokumentation begleitet russische Soldaten an der Front. Dass das vom angegriffenen Staat mit Skepsis gesehen wird, ist nachvollziehbar. Es ist aber erschreckend, wenn sich ein Filmfestival veranlasst sieht, aus Angst vor Störaktionen oder Schlimmerem auf eine Vorführung zu verzichten.

Sicherheitsbedenken hätten zur Absage geführt, gab das ZFF am Donnerstag in einem knappen Communiqué bekannt. Zur Gefahrenlage möchte sich die Festivalleitung nicht äussern, die Verunsicherung ist gross.

Die ukrainische Botschaft in Bern reagierte auf eine Anfrage der NZZ nicht. Klar ist, dass der Druck auch von hoher Stelle in der Ukraine kam: Das ukrainische Aussenministerium übte auf X Kritik am ZFF (das der NZZ gehört). Es sei dabei, seinen Ruf durch die Vorführung von russischer Propaganda zu ruinieren.

Zwei Wochen zuvor, beim Filmfestival in Toronto (Tiff), hatte der dortige diplomatische Vertreter der Ukraine öffentlich eine Absage des Films verlangt. Von ihm wohl erst auf den Plan gerufen, deckten danach proukrainische Aktivisten die Mitarbeiter des Tiff mit Hunderten von verbalen Übergriffen in Anrufen und E-Mails ein. Auch Androhungen von sexueller Gewalt gab es.

Umstritten ist «Russians at War», weil durchaus bezweifelt werden kann, dass es sich um eine unabhängige Filmarbeit handelt. Dass die Regisseurin Anastasia Trofimova sieben Monate ohne das Wissen des Kremls an der Front verbrachte habe, scheint vielen Beobachtern unglaubwürdig. Über jeden Zweifel erhaben ist Trofimova nicht. Sie arbeitete bis 2020 für den Propaganda-Sender Russia Today.

Handkehrum zeichnet der Film ein unvorteilhaftes Bild von der russischen Armee. Die Soldaten klagen über ausbleibenden Sold, militärisch wirken sie nicht gerade fähig, es macht den Anschein, als würden sie als Kanonenfutter verheizt. «Russians at War» weckt Mitleid. Darin mag man einen prorussischen Effekt erkennen. Dass diese Darstellung der Soldaten dem Kreml gefällt, darf dennoch bezweifelt werden. Hinter dem Werk einen ausgeklügelten Propaganda-Effort zu sehen, fällt schwer.

Der Ukraine steht es zu, den Film aufs Schärfste zu kritisieren. Doch die Angriffe – ob sie nun von offizieller Seite oder von eigenmächtig handelnden Aktivisten kamen – gingen offensichtlich über jedes Mass hinaus.

Es ist ein präzedenzloser Vorfall: Man kann sich nicht daran erinnern, dass schon einmal eine Schweizer Kulturinstitution von ausländischen Akteuren zu einem vergleichbaren Schritt genötigt wurde – zumal von Akteuren eines befreundeten Staates.

Die Einflussnahme auf «Russians at War» steht wohl auch symptomatisch für eine ungute Entwicklung in der kriegsversehrten Ukraine. Um die Demokratie steht es nicht zum Besten. Dass demokratische Prozesse ausgehebelt sind, ist dem russischen Angriff geschuldet. Dennoch darf Selenskis Regieren per Dekret nicht ohne Problematisierung bleiben. Berichte von Gewalt gegen Menschen, die sich der Einberufung verweigern, häufen sich zudem.

Auch die Vorkommnisse um «Russians at War» zeugen von zunehmender Aggressivität. Aus ihr spricht eine Verzweiflung, für die man volles Verständnis hat: Der brutale russische Krieg zehrt an dem Land, die Unterstützung des Westens ist zu wenig. Auf eine Kinodokumentation, die russische Soldaten auch als Opfer zeigt, kann man als Ukrainer in dieser Situation getrost verzichten. Dennoch darf das nicht zu Zensurversuchen führen. Auch der gerechte Krieg rechtfertigt keinen Blankocheck für Drohungen und Meinungsunterdrückung. Die Ukraine sollte sich in ihrem heldenhaften Kampf, den sie auch für Europa kämpft, nicht selber desavouieren.

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