Montag, Oktober 14

In der Grenzregion Kursk toben heftige Kämpfe. In den letzten Tagen nahmen die Russen mehrere Dörfer ein, die ukrainische Truppen im Sommer überraschend besetzt hatten. Die Entwicklung stellt die ukrainische Führung vor ein Dilemma.

Völlig unerwartet drangen am 6. August ukrainische Einheiten über die Staatsgrenze nach Russland in die Provinz Kursk ein und überrumpelten die dortigen Truppen des Kremls. In der Folge brachten sie etwa 900 Quadratkilometer mit mehreren Dutzend Dörfern und Weilern unter ihre Kontrolle. Am bedeutendsten war die Eroberung des Bezirkshauptorts Sudscha, der an einer wichtigen Eisenbahnlinie liegt.

Die Truppen Kiews richteten auf russischer Seite nicht nur ein Chaos an und stellten Schwachstellen des Feindes bloss. Die Ukrainer verschafften sich mit der Kursk-Offensive auch ein Faustpfand, von dem sie sich eine bessere Verhandlungsposition in allfälligen Gesprächen mit Moskau erhofften. Das eroberte Territorium war anfänglich ähnlich gross wie sämtliche von Russland im Laufe des Sommers im ostukrainischen Donbass neu besetzten Gebiete. Doch inzwischen schmilzt der ukrainisch kontrollierte Sektor dahin.

Am Wochenende und in den Tagen davor konnten die Kreml-Truppen mehrere Dörfer in der Grenzprovinz zurückerobern. Das geht aus Videos von Überwachungsdrohnen und Berichten von Militärkorrespondenten hervor. Die russische Gegenoffensive, die schon vor einem Monat begann, aber lange Zeit erfolglos blieb, hat damit deutlich an Fahrt gewonnen.

Bitter ist für die Ukrainer vor allem, dass sie aus dem Umland der Bezirkshauptstadt Korenewo verdrängt wurden. Nach dem Zusammenbruch ihrer Verteidigungslinien mussten sie Ende letzter Woche einen schnellen russischen Vorstoss über mehr als zehn Kilometer bis zum Dorf Nowoiwanowka hinnehmen. Sie verloren darauf auch die Kontrolle über das Dorf Olgowka, wo ihnen eine Einkreisung gedroht hatte.

Gescheiterter ukrainischer Plan

Noch zu Beginn des Herbstes hatten die ukrainische Truppen eine reale Chance gehabt, südwestlich von Korenewo ihrerseits russische Verbände einzukesseln. Mit der Belagerung dieser Stadt, der Zerstörung wichtiger Brücken und der Unterbrechung aller Verbindungsstrassen hatten sie wichtige Voraussetzungen dafür geschaffen. Doch diese Operation muss inzwischen als gescheitert gelten. Russland hat mehrere Nachschubrouten in das betreffende Gebiet zurückerobert.

Unter starkem Druck steht auch eine kleine Enklave im Raum Wesjolowe – von dort hatten die Ukrainer ursprünglich viel weiter nach Norden vorstossen wollen. Die Berichte über die dortige Lage sind widersprüchlich, doch melden russische Militärblogger, dass man die ukrainischen Truppen bis fast an die Grenze zurückgedrängt habe. Ein weiterer russischer Vorstoss zielt auf die östliche Flanke des ukrainisch gehaltenen Territoriums; dort ging am Wochenende das Dorf Borki verloren, wie die ukrainische Analysegruppe Deep State Map meldete.

Insgesamt haben die Ukrainer etwa ein Viertel ihres Territoriums in der Provinz Kursk eingebüsst. Die Verluste an Militärpersonal und Kriegsgerät sind unbekannt, aber sie sind zweifellos erheblich. Ein Mitarbeiter der Analysegruppe Oryx identifizierte in öffentlich zugänglichen Bildquellen allein für die erste Oktoberwoche den Verlust von 25 ukrainischen Panzer- und anderen Militärfahrzeugen. Ähnlich viel Kriegsgerät wurde im selben Zeitraum auf russischer Seite zerstört, aber Moskau verfügt über die grösseren Bestände.

Das untenstehende Video zeigt einige Angriffe ukrainischer Kamikazedrohnen auf russische Panzerfahrzeuge im Kursker Gebiet:

Vorwurf eines schweren Kriegsverbrechens

Ein Schlaglicht auf die schwierige Situation der Ukrainer wirft ein Vorfall, der sich am 10. Oktober ereignet haben soll. Gemeldet wurde er von der Gruppe Deep State Map, die sich auf Armeequellen berief. Neun ukrainische Drohnenpiloten seien in der Nähe von Nowoiwanowka vom Feind überrascht worden und hätten sich mangels ausreichender Munition ergeben. Sie seien darauf von den Russen erschossen worden.

Ein im Internet kursierendes Bild zeigt neun Männer in Unterhosen, bäuchlings auf dem Boden liegend. Ob sie ermordet wurden, lässt sich auf dem Bild nicht erkennen. Der ukrainische Menschenrechtskommissar Dmitro Lubinez erinnerte aber umgehend daran, dass solche Vorfälle eine schwere Verletzung der Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen darstellten. Unabhängig von den Umständen in diesem Fall, der genauer untersucht werden müsste, ist Lubinez’ Sorge sehr berechtigt. In den letzten Wochen haben sich die Berichte über solche Kriegsverbrechen durch russische Frontsoldaten gehäuft – oft werden sie auch durch Videos belegt.

Zudem feuern russische Propagandisten unverhohlen zu diesen Greueltaten an. Nach dem neusten Fall schrieb der Kreml-nahe Militärblogger Rybar, solche Erschiessungen seien keine Seltenheit. Oft seien Kriegsgefangene ja nur eine Last, denn nicht immer gebe es eine Möglichkeit, sie unter Bewachung zu stellen. Humanität einzufordern, sei einfach von einer Amtsstube aus. «Aber wenn es um unsere Territorien geht, kann man den ganzen humanitären Unsinn beiseitetun.» Die ukrainischen Truppen in Kursk seien ja auch von offizieller Stelle zu Terroristen erklärt worden. Diese offenbar von weiten Teilen der russischen Generalität geteilte Haltung – es gibt auch nie Strafuntersuchungen zu solchen Fällen – bedeutet eine vorsätzliche Missachtung des Kriegsvölkerrechtes.

Angeblich 50 000 Russen nach Kursk verlegt

Die Episode mit den neun Drohnenpiloten verrät ferner, wie schnell sich die Fronten in der Provinz Kursk derzeit verschieben. In der Regel befinden sich Drohnenpiloten in einiger Distanz hinter der Front und sind entsprechend auch nur leicht bewaffnet. Offensichtlich waren sie nicht rechtzeitig vor den vorrückenden Russen gewarnt worden. Ob die ukrainische Militärführung die Fronten nun wieder stabilisieren kann, ist höchst ungewiss. Sie müsste dafür frische Reserven in den Kampf führen, was gleichbedeutend damit wäre, den Einsatz in dieser riskanten Operation nochmals zu erhöhen.

Auf der Gegenseite setzt Russland eine wachsende Zahl von Soldaten ein, unter ihnen relativ kampfstarke Einheiten der Luftlandetruppen, der Marineinfanterie und der Speznas-Truppen. Der ukrainische Oberbefehlshaber Olexander Sirski bezifferte die feindlichen Truppen im Raum Kursk vor einigen Tagen mit 50 000 Mann. Präsident Putin hatte ursprünglich den Befehl erteilt, die Ukrainer bis zum 1. Oktober aus dieser Grenzprovinz zu vertreiben. Das ist nicht gelungen und dürfte frühestens in einigen Monaten geschehen. Bereits dies ist für die ukrainische Seite ein Erfolg.

Exit mobile version