Krieg ist für jede Demokratie eine Bewährungsprobe. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Demokratie auch im Krieg eine Demokratie bleibt, wächst, wenn sie von anderen Demokratien unterstützt wird.
Über das Verhältnis von Demokratie und Krieg sowie über die Kriegseignung von Demokratien gehen die Meinungen auseinander: Manche sind der Auffassung, die Demokratie sei eine vor allem für den Frieden geeignete Verfassung, weil sie auf politischen Mechanismen beruhe, die überaus fragil und verwundbar seien. Demokratien seien den Herausforderungen und Belastungen eines Krieges nicht gewachsen. Man müsse sie darum für die Dauer des Krieges zumindest ausser Kraft setzen und einen «starken Mann» (der auch eine Frau sein kann) mit autoritären Befugnissen an die Spitze des Staates bringen.
Andere gehen davon aus, dass die Demokratie als Verfassung bürgerschaftlicher Partizipation an der Politik mehr als andere Regime kriegsgeeignet sei, weil in ihr, wie Clausewitz mit Blick auf die Erfolge der französischen Revolutionsarmeen seit 1793 festhielt, ein ganzes Volk in die Waagschale des Krieges getreten sei. Die konservativen Monarchien dagegen führten den Krieg mit den Herumtreibern aus den eigenen Provinzen und den benachbarten Ländern sowie ein paar Talern in ihrem Koffer.
Immanuel Kant dagegen war der Auffassung, dass ein Volk, wenn es den Krieg mit all seinen Verheerungen und Leiden über sich selbst beschliessen müsse, eher am Frieden festhalten werde. Deswegen dürfe man, wenn erst die Republik zur allgemein vorherrschenden Verfassung der Staaten geworden sei, mit einem «ewigen Frieden» rechnen. Daraus ist dann die in der Politikwissenschaft zeitweilig dominante «Theorie des demokratischen Friedens» entstanden, laut der Demokratien keine Kriege gegeneinander führen.
Kosten und Nutzen
Ob das empirisch hieb- und stichfest war, blieb umstritten. Letztlich hing die Geltung des Theorems davon ab, wie strikt man Demokratie definierte. Kant und die ihm Nachfolgenden gingen davon aus, dass die Bürger einer Demokratie Kosten und Nutzen von Krieg und Frieden informiert gegeneinander abwägen und deshalb keine Kriege führen würden. Dabei wurden freilich die Macht des Ressentiments und der Einfluss politischer Propaganda unterschätzt, die Kosten-Nutzen-Kalküle immer wieder ausgehebelt haben. Systematische Irreführung kommt im Zeitalter der Internet-Trolle noch hinzu.
In jüngerer Zeit hat indes weniger die Frage nach der systemisch reduzierten Aggressivität von Demokratien im Zentrum der Debatte gestanden als vielmehr die nach ihrer Widerstandsfähigkeit gegen die offenen Drohungen und die militärische Gewalt autoritär-autokratischer Regime. Kants Problemstellung hat sich damit in ihr Gegenteil verkehrt: Ging er von der Annahme einer fortschreitenden Republikanisierung der politischen Welt aus, so stehen wir seit etwa einem Jahrzehnt vor der Frage, ob sich die Demokratie auf Dauer gegen die Verlockungen wie Drohungen autoritärer Regime wird behaupten können.
Dabei dürfte dem Kosten-Nutzen-Kalkül, auf dem Kant seine Erwartungen begründete, eine entscheidende Bedeutung zukommen: Es zeigte sich schon bei der in den Zeiten des Kalten Krieges zu hörenden Parole «lieber rot als tot», was auf eine Bereitschaft zu vorauseilender Unterwerfung hinauslief; sodann bei der Beobachtung, dass die wirtschaftlichen Zuwachsraten Chinas seit längerem kontinuierlich höher sind als die des Westens, weswegen ein autoritäres Regime gegenüber einer Demokratie womöglich zu bevorzugen sei.
Der Wille der Bürger
Und inzwischen zeigt es sich in der aktuellen Forderung, die Ukraine solle sich auf die Abtretung von einem Fünftel ihres Territoriums und den Verzicht auf einen eigenen politischen Willen einlassen, damit endlich Frieden herrsche und man aus Russland wieder billige Energieträger beziehen könne – ein Kosten-Nutzen-Kalkül, das in erheblichen Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung Zustimmung findet.
Insofern stellt sich die Frage mit einiger Dringlichkeit, ob Demokratien zur Selbstbehauptung noch fähig sind. Zumal dann, wenn sie sich der systematischen Desinformationskampagnen der Autoritären nicht zu erwehren wissen.
Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage liegt ein vergleichender Blick auf die Ukraine und Israel nahe, zwei Demokratien im Krieg: Beide sind von äusseren Feinden angegriffen worden und befinden sich in einem existenziellen Verteidigungskrieg. Aber damit sind die Ähnlichkeiten auch schon erschöpft, und es beginnt die Beobachtung von Unterschieden und Differenzen.
Beginnen wir damit, dass es sich bei der Ende des 18. Jahrhunderts in den USA entstandenen Demokratie, die von der antiken Demokratie, etwa von der in Athen, zu unterscheiden ist, eigentlich um ein Kompositum handelt, nämlich den demokratischen Rechtsstaat. In ihm ist der Wille der Mehrheit an rechtliche Vorgaben gebunden. Der Wille der Bürgerschaft steht in einem Spannungsverhältnis zur Wertrationalität der Verfassung.
Wie dieses Verhältnis im Einzelnen beschaffen ist, variiert von Land zu Land; es gibt nicht die demokratische Ordnung, sondern eine breite Palette von Variationen. In der Schweiz etwa hat das voluntative Element der Bürgerschaft ein grösseres Gewicht als in Deutschland, wo die Verfassung dem Willen der Bürger engere Begrenzungen auferlegt.
Grenzen der Macht
Bei ihrer Entstehung zum Jahreswechsel 1991/1992 war die Ukraine ein Regime postsowjetischen Typs mit einem autoritär regierenden Präsidenten, der sich auf eine Gruppe von Oligarchen stützte und in seinen Entscheidungen durch die Verfassung kaum eingeschränkt wurde, ganz ähnlich wie in vielen postsowjetischen Republiken.
Aber die Ukraine nahm nach einiger Zeit einen anderen Weg als diese. Zwei Maidan-Aufstände haben den jeweiligen Präsidenten die Grenzen ihrer Macht und der ihrer Sicherheitsorgane vor Augen geführt. In deren Folge kam es zu einem wiederholten Austausch des Präsidenten durch Wahlen, womit sich das Land vom Hauptstrang der postsowjetischen Entwicklung absetzte.
Das war zugleich die Voraussetzung dafür, dass die Oligarchenmacht zurückgedrängt und begrenzt wurde. Damit begann auch der Kampf gegen die Korruption, der freilich nur langsam vorankam. Sie ist nach wie vor in der ukrainischen Gesellschaft endemisch.
Zum Antreiber des Wegs in Richtung eines demokratischen Rechtsstaats nach westlichem Vorbild wurde der sich zunehmend verstärkende Gegensatz zu Russland, das im Gegenzug von einer Strategie politischer Einflussnahme zu militärischer Gewaltanwendung überging. Dass die Ukraine im Februar/März 2022 nicht, wie von den meisten Experten erwartet, von den Russen besetzt und übernommen wurde, sondern Militär wie Bevölkerung erbitterten Widerstand leisten, war das «Französische-Revolution-Moment», von dem Clausewitz gesprochen hat: die Opferbereitschaft eines Volkes gegen mit Geld angeworbene oder unter Zwang kämpfende Eroberer.
Erschöpfungserscheinungen
Die ukrainische Demokratie hatte ihre Feuerprobe bestanden. Aber hat sie auch die Kraft, den eingeschlagenen Weg weiter zu beschreiten und an dem gewählten Ziel festzuhalten? Inzwischen machen sich Erschöpfungserscheinungen breit, und der Abweg zu einer «bonapartistischen Lösung», wie ihn Frankreich mit Napoleon gegangen ist, ist nicht ausgeschlossen. Dazu würde indes gehören, dass es einer von Selenski geführten Ukraine gelänge, die Truppen des russischen Angreifers zu zerschlagen, Russland niederzuwerfen und unter seine Herrschaft zu bringen. Das ist ausgeschlossen.
Zurzeit ist das Charisma, das Selenski durch seinen Verbleib in Kiew im Februar/März 2022 erworben hat, im Abschmelzen. Die Zustimmung zu der von ihm vertretenen Linie ist in letzter Zeit geringer geworden, sei es wegen des Austauschs von Führungspersonal, sei es wegen des Ausbleibens durchschlagender Erfolge, auf die er gesetzt hatte, oder auch wegen einer sich ausbreitenden Erschöpfung in Armee wie Bevölkerung.
Dass die jetzt anstehenden Wahlen verschoben werden, hat wohl weniger mit Machtgelüsten des Präsidenten zu tun als mit dem Umstand, dass etwa 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets von russischem Militär besetzt oder von Russland völkerrechtswidrig annektiert sind, so dass dort keine Wahlen stattfinden können. Diese Territorien kurzerhand aussen vor zu lassen, käme einer Anerkennung der russischen Annexion gleich.
Wahlen, aber wie?
Ausserdem haben einige Millionen ukrainischer Bürger das Land verlassen und halten sich in Staaten der EU auf. Sie müssten an den Wahlen teilnehmen können, aber wie liesse sich das organisieren? Und können dann die, die sich dem Wehrdienst entzogen haben, dasselbe Stimmgewicht haben wie jene, die im Land verblieben sind und an der Front kämpfen? Kommt hier das demokratische Prinzip des «one man, one vote» an seine Grenze? Wie wird Selenski bei Wahlen, die nach Kriegsende stattfinden, abschneiden? Eine im Krieg gehärtete Demokratie würde ihn wohl abwählen, wie es die Briten am Ende des Zweiten Weltkriegs mit Winston Churchill getan haben.
Auch Israel, von dem man lange zu Recht gesagt hat, es sei die einzige Demokratie im Nahen Osten und der einzige Rechtsstaat ohnehin, ist überfallen worden, und die islamistische Hamas hat am 7. Oktober 2023 ein furchtbares Blutbad unter der Zivilbevölkerung des israelischen Südens angerichtet. Aber dieses schlimmste Massaker an Juden seit der Shoah wäre nicht ohne gravierende Fehleinschätzungen der israelischen Regierung möglich gewesen.
Ganz auf das Westjordanland konzentriert, wo radikalen Siedlern illegale Landnahme ermöglicht wurde, hat man die aus dem Gazastreifen drohende Gefahr unterschätzt. Aber das war nicht die Folge von Leichtfertigkeit, sondern der politischen Grundlinie der Regierung Netanyahu geschuldet, die sich nur an der Macht halten konnte, indem sie die rechtsradikalen Politiker anfütterte, ohne die sie keine Mehrheit in der Knesset mehr hätte.
Sie führt zurzeit einen offensiven Verteidigungskrieg, bei dem unklar ist, wie sehr darin innenpolitisches Kalkül oder sicherheitspolitische Imperative eine Rolle spielen. Israel ist nach wie vor eine Demokratie, sonst könnten die regelmässigen Demonstrationen gegen Netanyahu nicht stattfinden. Und bereits vor Kriegsbeginn hatten Teile der Zivilgesellschaft gegen den von Netanyahu in Gang gesetzten Abbau des Rechtsstaats mobilgemacht. Vermutlich würden die radikalen Siedler den Krieg gern nutzen, um den Rechtsstaat zu liquidieren. Aber dem steht die zivilgesellschaftliche Mehrheit entgegen.
Von Fall zu Fall
Demokratie im Krieg ist von Fall zu Fall zu beurteilen. Demokratien können im Krieg und am Krieg zugrunde gehen. Aber sie können auch gefestigt und gestärkt daraus hervorgehen. Es gibt keine festgelegten Bahnen, und die Spuren, die sich in der Geschichte finden, weisen in verschiedene Richtungen.
Eines immerhin gilt allgemein: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Demokratie auch im Krieg eine Demokratie bleibt, wächst in dem Masse, wie sie von anderen Demokratien unterstützt wird – nicht nur mit Waffen- und Munitionslieferungen, sondern auch mit Ratschlägen, wie man mit den Herausforderungen umzugehen hätte. Aber mehr als Ratschläge können es nicht sein, wenn für die Demokratie gilt, dass in ihr das Volk über sein Schicksal selbst entscheidet.
Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität in Berlin.