Die Ukraine kann manche strategisch wichtige Orte nicht mehr gegen Russlands Schläge aus der Luft verteidigen. Gleichzeitig äussert sich der Oberbefehlshaber Sirski auffallend pessimistisch über die Lage an der Front. Der Munitionsmangel zeigt zunehmend negative Folgen.

Nacht für Nacht greift Russland mit seinen gefürchteten Shahed-Drohnen an, oft auch mit Marschflugkörpern (Cruise-Missiles) und ballistischen Raketen. Die Lage am Himmel über der Ukraine hat sich in den vergangenen Wochen drastisch verschärft. Noch vor einem Monat konnte sich das Land beglückwünschen, dem russischen Raketenterror weitgehend getrotzt und den Winter ohne grössere Stromausfälle überstanden zu haben. Doch seither hat Moskau die Luftangriffe intensiviert. Was Experten seit längerem befürchtet hatten, scheint nun eingetreten zu sein: Die Munitionsvorräte der ukrainischen Flugabwehr sind offenbar weitgehend erschöpft. Die Folge ist, dass Russlands Raketen ihr Ziel immer häufiger erreichen.

Energieversorgung akut gefährdet

Besonders verheerend war die Angriffsserie vom vergangenen Donnerstag, als Russland sechs sogenannte Hyperschallraketen des Typs Kinschal einsetzte und die Ukraine keine davon abfangen konnte. Angeblich richteten sich die Kinschal-Angriffe gegen Erdgasspeicher und Rüstungsbetriebe im Westen des Landes, aber Genaues ist nicht bekannt. In derselben Nacht griff Russland das Kohlekraftwerk von Tripillja an, einen der wichtigsten Stromlieferanten der Region Kiew. Es wurde nach ukrainischen Angaben völlig zerstört.

Für die Ukraine war dies nicht die einzige Hiobsbotschaft. Russland verfügt nach Erkenntnissen der ukrainischen Luftwaffe auch über neuartige Marschflugkörper, die bei jenem Angriff zum Einsatz kamen. Es soll sich um eine Weiterentwicklung der von Kampfflugzeugen abgefeuerten Ch-59-Marschflugkörper handeln. Der neue Typ Ch-69 hat mit 400 Kilometern eine wesentlich grössere Reichweite. Zudem ist er für das Radar schlechter erkennbar und somit schwieriger zu bekämpfen.

Russland will die ukrainische Flugabwehr immer löchriger machen und sich damit die Möglichkeit verschaffen, zivile Infrastruktur, Fabriken und Militäranlagen nach Belieben zu treffen. Im schlimmsten Fall könnte es Moskau sogar gelingen, für seine Bomberflugzeuge die Lufthoheit zu erringen. Diese Befürchtung herrschte bereits vor einem Jahr, als der Ukraine die Munition für ihre sowjetischen Flugabwehrsysteme ausging. Darauf kamen verschiedene Nato-Länder mit der Lieferung westlicher Systeme zu Hilfe. Aber nun mangelt es auch dafür an Munition. Zudem fielen im Donbass kürzlich zwei Startgeräte des amerikanischen Systems Patriot einem Luftangriff zum Opfer.

Die Dramatik der Lage wird dadurch unterstrichen, dass Deutschland am Wochenende die sofortige Lieferung einer weiteren Patriot-Feuereinheit angekündigt hat – dies, obwohl die Bundesregierung noch am Mittwoch betont hatte, zu einer solchen Hilfe ausserstande zu sein. Berlin hatte der Ukraine bereits früher zwei Patriot-Systeme übergeben, die USA ein weiteres. Präsident Selenski bedankte sich am Wochenende überschwänglich und gab bekannt, dass Berlin auch Munition für bestehende Flugabwehrsysteme liefern werde.

Die neue deutsche Geste ist besonders wertvoll, weil nur moderne Flugabwehrsysteme wie die Patriots gewisse russische Raketen wie die Kinschal abwehren können. Knapp zwanzig Länder verfügen über Patriot-Feuereinheiten – auch die Schweiz beschafft derzeit fünf davon –, aber die ukrainischen Hilferufe verhallen weitgehend wirkungslos.

Die ukrainische Führung geht davon aus, dass für die dringendsten Bedürfnisse mindestens sieben Patriot-Batterien nötig wären. Eine einzige davon könnte beispielsweise eine Grossstadt wie Charkiw besser schützen, die seit Wochen dem russischen Raketenterror ausgesetzt ist und offenbar unbewohnbar gemacht werden soll. Eine funktionierende Luftverteidigung ist auch unabdingbar, um die ukrainische Industrie zu schützen. Die Ukraine will ihre Selbstversorgung mit Waffen verbessern, aber das kann nur gelingen, wenn die neuen Munitions- und Drohnenfabriken nicht laufend in Trümmer gelegt werden. Der russische Präsident Putin nannte vor einigen Tagen Angriffe auf die ukrainische Rüstungsindustrie als Priorität.

Aber nicht nur im Luftraum, sondern auch an den Fronten im Donbass wachsen die Bedrohungen. Der im Februar ernannte ukrainische Oberbefehlshaber, General Olexander Sirski, äusserte sich am Wochenende auffallend besorgt. Die Lage an der Ostfront habe sich in den letzten Tagen erheblich verschärft, teilte er mit. Russlands Führung habe die Eroberung der strategisch wichtigen Kleinstadt Tschasiw Jar bis zum 9. Mai als Ziel vorgegeben, behauptete der General. Er räumte zugleich ein, dass die Russen trotz hohen Verlusten Geländegewinne erzielten. Eine Rolle spiele das warme Wetter, das zu einem unüblichen frühen Ende der «Schlammsaison» geführt hat und Panzervorstösse über die trockenen Felder des Donbass ermöglicht.

Laut unabhängigen Beobachtern haben die Ukrainer seit Anfang März etwa 90 Quadratkilometer Territorium verloren, ein Drittel davon in der vergangenen Woche durch den Rückzug aus der monatelang umkämpften Ortschaft Perwomaiske bei Donezk. Rein flächenmässig fallen diese Verluste nicht ins Gewicht, aber die Armee wird durch die Kämpfe personell geschwächt. Für sie ist daher von grosser Bedeutung, dass das Parlament in Kiew vergangene Woche endlich das lange hinausgeschobene Gesetz über verschärfte Regeln bei der Mobilisierung neuer Truppen verabschiedet hat.

Die Lage an der Front wird dadurch erschwert, dass Russland viel häufiger als noch im vergangenen Jahr die gefürchteten FAB-Gleitbomben mit Sprengsätzen von mehreren hundert Kilogramm einsetzt. Sie können bei einem Treffer Verteidigungsstellungen völlig zerstören. Bei diesem Problem schliesst sich der Kreis: Diese Bomben werden von russischen Militärjets abgeworfen, die dabei bis auf einige Dutzend Kilometer an die Front heranfliegen. Um dagegen vorgehen zu können, müsste die Ukraine eine stärkere Flugabwehr erhalten.

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