Das ukrainische Ehepaar Olexi Kabakow und Walentina Petrowa war bis im Frühling 2023 in einem russischen Lager inhaftiert. Sie erzählen von ihren Erfahrungen in der Kriegsgefangenschaft.
Heute leben Olexi Kabakow und Walentina Petrowa mit ihren Kindern im Südwesten der Ukraine in Sicherheit. Bis Frühling 2023 war das Ehepaar in einem russischen Konzentrationslager inhaftiert.
Sie sprechen über Folter und Demütigung. Ihre Erfahrungen zeigen, dass das russische Gefängnissystem sich wenig verändert hat. Wie in der Sowjetunion ist in Putins Russland Haft erneut Mittel der Repression.
Kabakows und Petrowas Geschichte beginnt im Februar 2022, als Russland die Ukraine überfällt. Strategisch wichtige Städte wie die Industrie- und Hafenstadt Mariupol sollen eingenommen werden. Die russische Artillerie wird die Stadt in Schutt und Asche legen.
Der Geruch des Todes
Wer nicht evakuiert werden kann, flüchtet in das nahe gelegene Asow-Stahlwerk, eines der grössten metallurgischen Hüttenwerke Europas. Auch Kabakow und Petrowa kommen dorthin. Kabakow hat als Grenzschützer aktiv am Häuserkampf in Mariupol teilgenommen und ist durch Explosionen und Schrapnelle an den Händen leicht verletzt. Er muss im Bunkerlazarett versorgt werden. «Es kamen immer mehr Verwundete. In der Luft war der Geruch des Todes. Die schwarzen Säcke mit den Toten lagen überall.»
Mitte Mai befiehlt Kiew den Verteidigern des Asow-Stahlwerks zu kapitulieren. Am 18. Mai 2022 gerät Kabakow in Gefangenschaft. Mit Bussen werden Tausende Zivilisten und Soldaten in russische Gefängnisse transportiert. Kabakow kommt nach Oleniwka, im Oblast Donezk, in der besetzten Ostukraine. Er berichtet, wie er in Baracken, die maximal 200 Personen aufnehmen können, mit 600 Gefangenen ausharren muss. «Während einige auf Holzpaletten schliefen, konnten die anderen nur stehen. Wir hungerten ständig. Wässrige Suppe und Hafergrütze wurden zu unregelmässigen Zeiten verteilt.»
Die Gefangenen werden verhört und gefoltert. «Ich selbst wurde nicht physisch gefoltert, aber sie haben mir ständig während der Verhöre gedroht. Bei den Gefolterten konnte man die Spuren der Schläge am Körper sehen. Andere mussten gleich ins Krankenhaus.» Kabakow hat keinen Kontakt zur Aussenwelt. Seine Familie findet Fotos von ihm auf prorussischen Telegram-Kanälen. Auf dem Foto ist zu sehen, wie er in Reih und Glied im Gefängnishof steht, den Kopf zum Boden gesenkt. Keiner weiss, wer die Fotos gemacht hat.
Nach einem Monat, am 10. Juni 2022, kommt Kabakow nach Swerdlowsk, in die Region Luhansk, in die Kolonie 38. Er ist wieder mit 200 Gefangenen in einer Baracke. Einmal die Woche dürfen sie duschen. Verhöre und Folter gehen weiter. «Sie zwangen einige, Verbrechen zu gestehen. Zum Beispiel Mord an Zivilisten. Diejenigen, die unterschrieben haben, wurden dann zu mehreren Jahren Haftstrafe verurteilt.»
Der wiederbelebte Archipel Gulag
Solchen Haftbedingungen wurden während Jahrzehnten schon Millionen vor Kabakow ausgesetzt. Die Gulags gehen bis ins russische Zarenreich zurück. Die inhumanen Lagerbedingungen beschreibt bereits Dostojewski in seinen autobiografischen «Aufzeichnungen aus dem Totenhaus» (1862).
Der Schriftsteller Alexander Solschenizyn, der selbst dem stalinistischen Terror zum Opfer fällt, notiert über dreissig verschiedene psychische und physische Foltermethoden: Demütigung, Einschüchterung, Brandverletzungen mit Zigaretten, Schlafentzug, Einsperren in einer Kiste, Hungern. Den Tod seiner Mitinsassen wegen der Arbeit bei eisiger Kälte in der Region Kolyma beschreibt der Autor Warlam Schalamow.
Dass der Archipel Gulag im 21. Jahrhundert in den besetzten Gebieten der Ostukraine wiederbelebt wird, hat der ukrainische Schriftsteller Stanislaw Assejew berichtet. Er ist im Gefängnis Isoljazija in Donezk, das er als «Dachau des Donbass» bezeichnet, unter anderem mit Elektroschocks gefoltert worden.
Kabakow kommt am 7. März 2023 in einem Gefangenenaustausch frei. «Mein erster Wunsch war es, nach Hause zu meiner Familie zu gelangen. Meine Träume, ein normales Leben führen zu können, ein Auto zu besitzen, halfen mir, Distanz von den Erlebnissen in der Strafkolonie zu gewinnen.»
Klicken des Abzugs
Olexi Kabakows Frau, Walentina Petrowa, ist Anfang 2022 Teil der Nationalgarde, nicht als Kombattantin, sondern im Backoffice. Im Asow-Stahlkomplex hilft sie, das Leben in den Bunkern zu organisieren.
Wie Kabakow verlässt auch Petrowa am 18. Mai 2022 den Asow-Stahlkomplex. «Mitarbeiter vom IKRK haben unsere persönlichen Daten aufgenommen und gesagt, dass alles gut werden werde.»
Nach einer Durchsuchung und der Aufnahme ihrer Personalien durch russische Soldaten und Polizisten wird Walentina Petrowa nachts nach Oleniwka transportiert. «Wir mussten auf den Boden starren. Im Bus war ein russischer Soldat, er klickte die ganze Zeit am Abzug seines Gewehrs. In der Dämmerung haben wir neben sehr hohen Mauern mit Stacheldraht angehalten.»
Einen ganzen Tag müssen sie im Bus ausharren, einige sitzend, viele stehend. «Ukrainische Offiziere wurden einer nach dem anderen abgeführt. Nach einer halben Stunde kamen sie mit zerschlagenem Gesicht und komplett desorientiert zurück.» Petrowa hört, wie die Soldaten prahlen: Sie hätten alles gefilmt.
In Oleniwka werden die Frauen im Erdgeschoss des Gebäudes untergebracht. «24 Stunden schrien die Gefolterten im ersten Stock. Wir haben es ununterbrochen gehört. Beim Zuhören denkst du auf einmal, dass es die Stimme deines Ehemannes ist oder deines Bruders sein könnte.»
Am 29. Juli 2022 sei es merkwürdig still im gesamten Lagerkomplex gewesen. Alle Männer aus den Baracken wurden im Hof aufgereiht und neu aufgeteilt. Insbesondere die Mitglieder der Asow-Brigade wurden zusammen in eine Baracke abgeführt. «Die Wächter lachten und sagten, dass es eine Show geben werde», sagt Petrowa. Um 23 Uhr 30 seien die Wächter aufgeregt durch die Korridore gelaufen. Sie hätten alle Schlösser kontrolliert und die Luken der Zellentüren geschlossen. Dann habe wieder totale Stille geherrscht. Plötzlich habe sie eine heftige Explosion gehört, sie habe deren Schockwelle spürt. «Die Männer schrien nach Hilfe. Dann hörten wir die Pistolenschüsse.»
Beim Massaker von Oleniwka sind etwa fünfzig bis sechzig Gefangene durch eine Detonation eines undefinierten Explosionskörpers ums Leben gekommen. Doppelt so viele wurden verwundet. Nach Angaben von Moskau ist eine abgelenkte ukrainische Himars-Rakete die Ursache gewesen. Diese Schutzbehauptung wurde vom Uno-Hochkommissar für Menschenrechte und durch unabhängige Analysen zurückgewiesen. Zahlreiche Zeugen und ehemalige Häftlinge wurden befragt. Ihre Aussagen decken sich mit Petrowas Schilderungen. Dem IKRK wurde der Zugang zum Unglücksort verweigert.
Biometrische Datensammlung
Zwei Monate später, am 27. September 2022, wird Walentina Petrowa nach Taganrog verlegt, ein Lager am Asowschen Meer zwischen Mariupol und Rostow am Don. Petrowa werden Fingernägel und Haare geschnitten, DNA-Proben werden genommen. Es wird ein Röntgenbild ihres Kopfes gemacht: biometrische Datensammlung. «Falls ich nach einer plastischen Chirurgie nach Russland zurückkommen wolle, um Putin zu töten, haben die Wärter lachend zu mir gesagt.»
In Taganrog wird sie zweimal am Tag geschlagen. «Sie haben uns mit ihren Stiefeln mit Stahlkappen immer wieder auf die gleiche Körperstelle getreten. Unsere Körper waren blau und schwarz.»
Die körperlichen Symptome werden unerträglich. Sie hört auf zu essen. «Ich hatte Bauchschmerzen. Ich habe versucht, nicht zu weinen, aber ich hatte hysterische Attacken.» Sie kann nicht mehr aufstehen. Sie wird in ein Krankenhaus eingeliefert. Ultraschall, Endoskopie, sie hat eine Magenentzündung. «Meine Gallenblase war sehr gefüllt, meine Augen waren schon gelb.» Sie wird zurück nach Taganrog gebracht, und es werden ihr Medikamente verabreicht. Nach und nach erholt sie sich.
Am 10. April 2023 wird Walentina Petrowa mitten in der Nacht geweckt. Durch einen Gefangenenaustausch kommt sie frei.
Vom KGB zum FSB
Wer das System dieser inhumanen Lagerbedingungen verstehen will, muss auf die dahinterstehenden Institutionen schauen: den russischen Inlandgeheimdienst FSB, Erbe des berüchtigten Komitees für Staatssicherheit und der sowjetrussischen Geheimpolizei Tscheka. Assejew schreibt in seinem Buch «Heller Weg, Donezk. Bericht aus einem Foltergefängnis», wie er mit einem sowjetischen Polizeiknüppel geschlagen wird. Das Gefängnis Isoljazija, in dem er war, wird vom FSB geführt.
Der FSB ist Wladimir Putin direkt unterstellt. Er war selbst einst Direktor dieser Institution. Der FSB hat eine eigene Spezialeinheit (Speznas) und eine Grenzwache, die von jedem nach Russland Einreisenden Daten sammelt. Sie bekämpft offiziell Terrorismus, überwacht als Kreml-feindlich eingestufte politische Parteien und führt Verhöre in Strafkolonien. «Sie haben versucht, ihre Identität zu verstecken, aber wir konnten ihre Abzeichen sehen», sagt Olexi Kabakow.
Von der kommunistischen Planwirtschaft zum Kapitalismus, vom Einparteisystem zur Demokratie, was sich nicht verändert habe während all dieser Umbrüche in Russland, sei der Inlandgeheimdienst, schreibt der Russlandexperte Kevin Riehle in seinem 2024 erschienenen Buch «The Russian FSB». Die Methoden seien dieselben geblieben, und damit sei es auch das Leid derer, die ihnen heute noch in die Hände fielen.
Solschenizyn hat den Archipel Gulag mit Krebs verglichen. So wie der Tumor den Körper von innen zerstöre, vergifte der Gulag Russland. Oleniwka, Taganrog, Isoljazija, Kolonie 38 – der russische Lagertumor metastasiert. Heute wächst er in der Ostukraine.
Olivier Del Fabbro arbeitet als Oberassistent an der Professur für Philosophie der ETH Zürich. Seine Interessen sind komplexe Systeme und künstliche Intelligenz, Philosophie der Medizin und Philosophie des Krieges.