Freitag, November 22

Automatischer Bahnbetrieb ist eine Chance für die klimafreundliche Mobilitätswende. In Deutschland sind die U-Bahn Frankfurt und die S-Bahn Hamburg Vorreiter der Transformation, in der Schweiz die Appenzeller Bahnen.

Heute fährt der Grossteil der Züge überall auf der Welt in sogenannten Blockabständen von einem Signal bis zum nächsten. Dort bekommen sie Grün nur, wenn der «Streckenblock» voraus frei ist:

In einem digitalen Zugbetrieb aber braucht es keine Signale mehr. Die Blockabstände werden dank funkbasierter Computertechnik beweglich. Die Bahnen fahren im absoluten Bremswegabstand hintereinander her. Ohne Risiko, auf den Vordermann aufzufahren: Der Computer errechnet den Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Zug:

Automatischer Betrieb mit schnellen Zugfolgen im «Moving Block» ist das Ziel in den U-Bahn-Tunneln der städtischen Frankfurter Nahverkehrsgesellschaft VGF. Die technischen Vorbereitungen für das Digital Train Control System Frankfurt (DTC) sind in diesem Jahr begonnen worden. «Wir sind stolz darauf, als erste Stadt in Deutschland die innovative Zugsicherungstechnik grossflächig in unsere Tunnelinfrastruktur zu bringen», sagt Wolfgang Siefert, Mobilitätsdezernent der Stadt Frankfurt.

In U-Bahn-Netzen und Shuttlediensten auf Flughäfen sind weltweit seit Jahrzehnten ferngesteuerte Züge ohne Fahrer unterwegs. Dazu zählt auch die Skymetro am Flughafen Zürich, die sich statt auf Schienen auf Luftkissen bewegt. Und die Appenzeller Bahnen setzen auf der Strecke Rheineck–Walzenhausen die erste vollautomatisierte Zahnradbahn ein. Mit der Communication Based Train Control (CBTC) soll künftig ausgereifte Computertechnologie mit drahtloser Kommunikation für den vollautomatischen Bahnbetrieb zur Verfügung stehen.

Die Züge kommunizieren beständig mit der Leitstelle und untereinander; ebenso melden sie in Echtzeit ständig ihre Position auf der Strecke. Die Pluspunkte: Es können mehr Züge in kürzesten Abständen ins Netz geschickt werden. Zudem optimiert der Computer den Fahrtverlauf präziser als individuelle menschliche Aktion. Das wird zudem spürbar den Energieverbrauch senken. «Digitale Technologie statt noch mehr teure Tunnel bauen. Nachhaltigkeit und Digitalisierung zusammenbringen», so brachte es Michael Peter, Chef von Siemens Mobility, dem Systemlieferanten des Frankfurter Projektes, kürzlich vor Journalisten auf den Punkt.

Mischverkehr als zusätzliche Erschwernis

Alle neun Stadtbahnlinien will die VGF bis Anfang des nächsten Jahrzehnts auf das digitale System umrüsten. Eine Zusatzaufgabe: Wie in vielen Stadtbahnsystemen tauchen die Frankfurter Linien ausserhalb der Innenstadt aus den Röhren auf; sie müssen sich dann die Wege mit dem Individualverkehr teilen. Auch dieser ist im Ampelbereich rechnergesteuert, und so wird von Verkehrsbetrieb und Strassenverkehrsamt die digitale Vernetzung der Systeme mit einer Optimierung der Ampelschaltungen für den Zugbetrieb vorbereitet.

«Wir erleben einen spannenden Wandel hin zu Elektrifizierung, Digitalisierung und innovativen Projekten, die das Fahrgasterlebnis nur noch verbessern werden», erklärt Renée Amilcar, frisch gekürte Präsidentin des internationalen Verbandes der Nahverkehrsunternehmen UITP und Chefin des Verkehrsbetriebes der kanadischen Hauptstadt Ottawa, voller Optimismus.

«Hochdigitalisierter Bahnbetrieb macht den Schienenverkehr effizienter, attraktiver und auch konkurrenzfähiger gegenüber anderen Verkehrsträgern», bestätigt Maria Leenen, Geschäftsführerin der deutschen Beratungsfirma SCI Verkehr. In einer jüngst vorgelegten Studie zur Entwicklung der weltweiten Bahnindustrie beschreiben ihre Gutachter einen Wachstumsmarkt mit einem Volumen von jährlich über 200 Milliarden Euro in allen Erdteilen – Tendenz weiter steigend. Getrieben werde die Entwicklung vor allem von Aufträgen für digitale Komponenten oder die Einrichtung kompletter digitaler Systeme wie bei der Frankfurter U-Bahn.

Berlin, München, Paris, London, Kopenhagen, von Ägypten über Saudiarabien und Indien nach Singapur – überall wird Schienenverkehr in die digitale Transformation gebracht. Allerdings beobachtet die Branchenexpertin Leenen «zwei Geschwindigkeiten der Digitalisierung». So gebe es «beeindruckende Lösungen hochdigitalisierten Bahnbetriebs» insbesondere im Nahen Osten und in Asien mit neuen Systemen gewissermassen auf der grünen Wiese.

Anders dagegen in Europa: Die Digitalisierung der Eisenbahn-Bestandsnetze sei deutlich aufwendiger, da eine Umrüstung auf Zukunftstechnologien im laufenden Betrieb nur schrittweise möglich sei. Leenen befürchtet, dass trotz einigen Pilotprojekten «die Komplettautomatisierung der konventionellen Bahnnetze aufgrund der hohen Investitionskosten in weite Ferne rückt».

Das betrifft vor allem ETCS, das European Train Control System. Von der europäischen Verkehrspolitik seit langem herbeigesehnt, kommt die netzweite Einführung der europäisch einheitlichen Leit- und Sicherungstechnik auf digitaler Basis und per Bahnfunk nur schleppend voran. Denn sie ist teuer und belastet schwer die Staatshaushalte. Hightech-Stellwerke, Loks und Triebwagen müssen für viel Geld aufgerüstet oder gleich durch digitalisierte Neufahrzeuge ersetzt werden.

Zurückhaltung bei der Digitalisierung

So hat die Deutsche Bahn (DB) bereits im vergangenen Jahr bei der Ankündigung, in den kommenden Jahren 40 Hochleistungsstrecken ihres Netzes komplett zu sanieren, die eigentlich geplante Einführung von ETCS bei diesen Vorhaben teilweise zurückgestellt. Hartnäckig halten sich zudem offiziell dementierte Gerüchte, die marode Staatsbahn wolle aus Kostengründen vorerst ganz auf die Digitalisierung verzichten.

Die Branche nimmt es mit wachsender Sorge zur Kenntnis. Deutschland sei Transitland in Europa mit wichtigen transeuropäischen Verkehrskorridoren und deshalb müsse es bei der Digitalisierung der Schiene «eine Schlüsselrolle» übernehmen, mahnt beispielsweise Michael Konias, der beim Bahntechnik-Riesen Alstom das Digitalgeschäft der Region DACH leitet.

In Hamburg kommt ungeachtet dessen ein Pilotprojekt gut voran. Automatisierter Betrieb ist seit fast zwei Jahren fahrplanmässiger Alltag auf einem gut 20 Kilometer langen Abschnitt einer S-Bahn-Linie. Dort werden vier digital ausgerüstete Züge ausschliesslich vom Rechner gesteuert – ganz regulär mit Fahrgästen und im Mischbetrieb mit den übrigen Fahrzeugen. Ein Lokführer ist nur noch zur Überwachung im Führerstand. Das ist «ATO over ETCS», also Automatic Train Operation, automatisierter Zugbetrieb, auf Basis der europäischen Leit- und Sicherungstechnik. Fachleute präzisieren: Es geht um ETCS im Level 2 – mithilfe umfassender Kommunikation per Zugbahnfunk gesteuert; Signale am Bahndamm werden überflüssig.

Wie die Frankfurter U-Bahn erreicht die digitale Hamburger S-Bahn optimierte Fahrweisen und Zugfolgen unter zwei Minuten. Damit könnten in Stosszeiten bis zu 30 Prozent mehr Bahnen fahren. Mehr Züge brauchen mehr Energie. Da ist es von Vorteil, dass etwa durch die exakt gesteuerte Fahrweise der Stromverbrauch pro Zug um ebenfalls bis zu 30 Prozent gesenkt werden soll. Zudem verfügt der vom Computer gesteuerte Betrieb über Programme, die bei Störungen des Betriebsablaufs in Sekundenschnelle aus der Ist-Situation heraus die optimale Alternative zurück zum Fahrplan errechnen.

«Unser Ziel ist, das Hamburger S-Bahn-Netz bis zum Ende des Jahrzehnts flächendeckend mit ATO over ETCS auszurüsten», so beschreibt ein Bahnsprecher das Gemeinschaftsprojekt der Deutschen Bahn mit der Stadt Hamburg und Siemens Mobility. Bis 2027 soll für knapp 70 Stationen mit rund 750 000 Passagieren pro Tag auf rund 150 Streckenkilometern das neue intelligente Leitsystem installiert werden.

Ab 2024 ist die Hamburger S-Bahn automatisiert

Vom nächsten Jahr an werden 64 Züge einer neuen Baureihe mit der digitalen Technik erwartet. Siemens liefert die digitale Infrastruktur, Fahrzeughersteller ist das Unternehmen Alstom, das sich über diesen Auftrag hinaus in der Hansestadt die Lieferung von über 300 U-Bahn-Zügen und die digitale Ausstattung mit CBTC-Technologie von Hamburgs erster vollautomatischer fahrerloser Metrolinie sicherte.

Zur Bewährungsprobe für Industrie und DB wird das nach wie vor heftig umstrittene Projekt Stuttgart 21. Die Bahn will ihren neuen unterirdischen Hauptbahnhof für Baden-Württembergs Landeshauptstadt mit allen Zulaufstrecken für den Nah- und Fernverkehr als Pilotprojekt zum «digitalen Knoten» aufrüsten. Dann können dort nur noch Schienenfahrzeuge unterwegs sein, die ETCS-tauglich sind.

Allein 333 S-Bahnen und Regionaltriebzüge sollen bis zum Tag X mit der Bordtechnik ausgestattet, parallel die stationäre Leit- und Sicherheitstechnik installiert werden und die Abläufe einstudiert sein. In der Fachwelt ist kopfschüttelnde Skepsis weit verbreitet: In der Absicht, die digitale Transformation auf einen Schlag zu verwirklichen, steuere die DB, so heisst es immer wieder, auf ein Desaster zu.

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