Der Finanzmarkt sieht die Gruppe vor allem als Halter von Hannover-Rück-Anteilen. Dabei hat das Management die Industrie- und die Privatkundensparte saniert und zu echten Gewinntreibern umgebaut. Die gibt es günstig dazu.
Wenn Talanx-Finanzchef Jan Wicke an seinen Start 2014 als Vorstandsmitglied zurückdenkt, erkennt er sein heutiges Unternehmen kaum wieder. «Talanx ist wirklich eine andere Firma als vor zehn Jahren», sagt der 55-Jährige, der damals als erfahrener Sanierer geholt wurde.
Schon 2010 war Torsten Leue von Allianz als Geschäftsleitungsmitglied zu Talanx gestossen und übernahm 2018 den Chefposten. Gemeinsam hat die neue Mannschaft die Erstversicherer der Gruppe saniert. Und nicht nur das: Leue und Wicke haben die Erstversicherer sogar fast auf Augenhöhe gebracht mit dem Rückversicherungsgeschäft, gemessen am Nettogewinn. Keine bescheidene Leistung, denn Letzteres besteht aus dem 50,2%-Anteil an der auch kotierten Hannover Rück, die ebenfalls tüchtig wächst.
Die breite Aufstellung von Talanx hat grosse Vorteile. Denn die Risiken sind nun besser gestreut, urteilen die Analysten von Berenberg. In manchen Jahren mag beispielsweise eine heftige Wirbelsturmsaison in Amerika das Ergebnis der Rückversicherung belasten. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sich im selben Jahr auch die Schäden in der Industrie- und der Privatkundensparte häufen. Durch die grössere Streuung kann Talanx Risiken besser – sprich: günstiger – tragen und niedrigere Preise fordern, ohne dass die Marge darunter stark leiden muss.
Der Finanzmarkt hat angefangen, die Wandlung von Talanx zu einer Gruppe mit mehreren Wachstumsgeschäften zu würdigen. Die Aktie hatte über sechs und zwölf Monate mehr Kursauftrieb als die US-Tech-Werte im Nasdaq-100-Index, zeigt die Analyse des Kursmomentums von The Market. Das ist ein gutes Zeichen für Anleger, weil wissenschaftliche Studien zeigen, dass der Kurstrend der vergangenen sechs und zwölf Monate oft noch mehrere Monate weitergeht. Die Absturzgefahr steigt hingegen dann, wenn ein Unternehmen stark überbewertet ist.
Anleger verkennen das Ertragspotenzial
Doch von einer Überbewertung kann bei Talanx keine Rede sein. Die Investoren schätzen nur den Hannover-Rück-Anteil, achten die übrigen Sparten dagegen gering. Insgesamt wird das Unternehmen mit dem knapp Zehnfachen des für 2025 geschätzten Gewinns bewertet. Für die Erstversicherer der Gruppe zahlt der Markt weniger als das Fünffache dieses Gewinns. Das haben die Berenberg-Analysten Michael Huttner und Tryfonas Spyrou auf Basis eines Vergleich von Talanx mit der Bewertung von Hannover Rück errechnet. Demnach ist dieses sanierte Geschäft mit Industrie- und Privatkunden bereits für die Hälfte des Buchwerts zu haben.
Noch vor fünf Jahren mochte eine niedrige Bewertung des Restgeschäfts neben dem Hannover-Rück-Anteil gerechtfertigt sein. 2020 darbte die Eigenkapitalrendite der Talanx-Erstversicherer bei 4%, halb so hoch wie die des Rückversicherungsgeschäfts. Die Renditeschwäche war nicht nur der Covid-Pandemie geschuldet. Schon im Zeitraum von 2012 bis 2020 hatte die Eigenkapitalrendite der Erstversicherer bei nur 5% gelegen. Doch die 2018 gestartete Restrukturierung des Industrieversicherungsgeschäfts war erfolgreich: Derzeit sei die Eigenkapitalrendite in den einstigen Problemgeschäften gut zweistellig und werde «nachhaltig bei mehr als 10% bleiben», prognostizieren die Berenberg-Analysten.
Clubvorteil bei den Kosten
Das Geschäftsmodell von Talanx in der Industrieversicherung nennt Berenberg-Analyst Huttner «ausserordentlich». Der Schlüsselvorteil sei der Fokus auf Mitglieder des Haftpflichtverbands der deutschen Industrie (HDI), dem 77% der Talanx-Aktien gehören.
Die HDI-Mitglieder sind stark daran interessiert, günstige Industrieversicherungen zu erhalten, und machen entsprechend Druck. Offenbar mit Erfolg. Ein kleiner Teil des Geschäfts läuft auch direkt mit den Mitgliedern, ohne Einbeziehung eines Versicherungsmaklers, was beträchtliche Gebühren spart.
Ausserdem profitiert Talanx von Grössenvorteilen dank des Wachstums dieses Geschäfts um durchschnittlich 17% pro Jahr vom Beginn der Restrukturierung 2018 bis 2022.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. «Wir sind in den vergangenen fünfzehn Jahren zwei- bis viermal so stark gewachsen wie die Wettbewerber», sagt Finanzchef Wicke. Das hänge auch mit den dezentralen Strukturen zusammen, dank denen es keine endlosen Abstimmungen gebe, sondern klare Verantwortung und entsprechende Leistungsanreize zum Beispiel für Länderchefs.
Wer in regelmässigen Vergleichen schlechter abschneide als die Konkurrenz, müsse mit Konsequenzen rechnen, so Wicke. «Wir schicken keine McKinsey-Teams aus der Zentrale, wenn es nicht läuft, sondern nehmen eher Veränderungen im Management vor.»
Übernahme im Wachstumsmarkt Südamerika
Das Talanx-Management hatte den Plan ausgegeben, mit der Erstversicherung rund die Hälfte des Geschäfts zu machen. Dieses Ziel verfolgte es auch mit Übernahmen. «Wir haben gerade eine grosse Akquisition in Südamerika abgeschlossen, dadurch sind wir die Nummer zwei dort bei der Schaden- und der Unfallversicherung», sagt Wicke. «Dort erwarten wir ein stärkeres Wachstum als in Europa, wie für aufstrebende Volkswirtschaften üblich.» Schon 2025 soll die Übernahme den Gewinn um 80 Mio. € pro Jahr vergrössern, nach Akquisitionskosten.
Es muss nicht Wickes letzter Deal gewesen sein. «Der Markt für Industrieversicherung ist noch nicht so stark konsolidiert, wir sind bereit für eine Akquisition», sagt er. Talanx ist jedoch sehr wählerisch. «Wenn einer von zwanzig Akquisitionsvorschlägen umgesetzt wird, ist das eine gute Quote», sagt Wicke.
Profiteur der höheren Zinsen
Versicherer wie Talanx gehören zu den wenigen Unternehmen, die unter den gestiegenen Zinsen nicht leiden, sondern eher davon profitieren. Denn von ihren 131 Mrd.€ Versicherungskapital legt Talanx mehr als 100 Mrd. € in festverzinsliche Papiere an. Derzeit erhält sie dafür eine durchschnittliche Verzinsung von gut 3%. Bei Neuinvestitionen beläuft sich die Durchschnittsrendite dagegen auf 4,7%. Die durchschnittliche Laufzeit des Portfolios beträgt fünf bis sieben Jahre. Jedes Jahr werden also rund 15% des Kapitals für Neuinvestitionen frei, dazu kommen weitere Gelder durch das Wachstum.
Der Effekt auf das Gesamtergebnis ist relevant. Die Marge im Industrieversicherungsgeschäft beträgt 3 bis 5% des Umsatzes. Ein Anstieg um einen Prozentpunkt durch die verbesserte Kapitalanlage würde hier also eine Gewinnerhöhung um 20 bis 33% bedeuten, rechnet Wicke vor. Allerdings: Wegen der höheren Inflation sind auch die abgesicherten Schäden teurer geworden.
Unabhängig von Inflation und Zinsentwicklung will Finanzchef Wicke weiter voranschreiten: «Das Wachstums des Gewinns pro Aktie war bei uns jedes Jahr sehr hoch, und wir haben auch vor, das in den nächsten Jahren fortzusetzen.» Die bei Bloomberg erfassten Analysten prophezeien Talanx denn auch ein durchschnittliches jährliches Wachstum von gut 10% beim bereinigten Gewinn pro Aktie für 2024 bis 2026. Allianz dagegen trauen sie nur 6 bis 7% Gewinnwachstum per annum zu.
Relativ niedrige Dividendenrendite, dafür mehr Wachstum
Die geschätzte Dividendenrendite von 3,5% für 2024 bei Talanx liegt deutlich unter den Werten von Konkurrenten wie Allianz (5,5%). Talanx sei stärker auf Wachstum fokussiert, sagt Wicke und verspricht: «Wir werden die Dividende in den nächsten Jahren natürlich weiter steigern.»
Hannover Rück liegt mit der geschätzten Dividendenrendite von 3,7% knapp über Münchener Rück (3,4%), aber weit unter den 5,7%, die Analysten Swiss Re zutrauen.
Sowohl Talanx als auch Hannover Rück seien sehr kapitalstark, urteilt der auf Versicherer spezialisierte Fondsmanager Rötger Franz vom Vermögensverwalter Plenum Investments in Zürich. «Hannover Rück ist für Talanx eine Cash Cow», sagt er. «Die Ausschüttungen werden hoch bleiben und in der Tendenz eher positiv überraschen.» Der Grund dafür seien die hohen Kapitalreserven.
Hohe Preise für Rückversicherung beflügeln die Anbieter
Hannover Rück und ihre Haupteignerin Talanx haben von dem starken Anstieg der Preise für Rückversicherung profitiert. «Der Rückversicherungsmarkt hat seinen Gipfel erreicht, die Preise sind aber immer noch auf hohem Niveau», sagt Franz, der auch Fonds für sogenannte Katastrophenanleihen (Cat Bonds) verwaltet. Der Preis dieser Absicherung hängt besonders von den vorangegangenen Hurrikansaisons in Amerika ab. 2022 war ein sehr schlechtes Jahr für Rückversicherer, wegen des Wirbelsturms «Ian» und der von ihm verursachten Schäden in Florida. Derzeit liegt die Rendite vieler Katastrophenanleihen bei mehr als 10% brutto pro Jahr, also vor Schäden. Vor 2023 war sie letztmals vor zwölf Jahren so hoch, nach dem Erdbeben und dem folgenden Tsunami in Japan.
Das Preisniveau macht nicht nur Rückversichereraktien, sondern auch Katastrophenanleihen attraktiv. Anleger können über spezialisierte Fonds investieren. «Heute haben Cat Bonds Speck am Knochen», sagt Ottmar Wolf, Gründer des Vermögensverwalters Frankfurt Asset Management, der für Kunden über Fremdfonds investiert. «Die Risiken sind überversichert.» Realistisch seien eher Schäden von 2% des Kapitals, was die Rendite von 10% sehr auskömmlich wirken lässt.
Den Versicherern und ihren Titeln hilft die Aussicht auf längere Zeit höher bleibende Zinsen, sagt Roger Peeters, geschäftsführender Gesellschafter bei pfp Advisory. Er berät den auf deutsche Aktien spezialisierten Fonds DWS Concept Platow, der Münchener Rück, Talanx und Allianz in seinen Top Ten hält. Die jüngsten Quartalsberichte zeigten erneut die aktuelle Stärke der Assekuranz. «Einige Unternehmen haben die Erwartungen nicht nur übertroffen, sondern geradezu pulverisiert», sagt Peeters. «Das Umfeld ist einfach vorteilhaft.»
Als Hauptrisiko für Hannover Rück und Talanx bezeichnet Branchenspezialist Franz von Plenum Investments die Gefahr, dass die Preise für Versicherungen schnell und deutlich fallen. Dafür sehe er derzeit jedoch keine Anzeichen.
Grosse Freiheit für das Management
Langfristig birgt die ungewöhnliche Struktur mit dem Versicherungsverein HDI als Mehrheitseigentümer durchaus Risiken. Da CEO Leue und Finanzchef Wicke dort ebenfalls die Führungspositionen halten, stellt sich die Frage, wer das Talanx-Management kontrolliert und notfalls eingreift, falls der Erfolg eines Tages nachlassen sollte. «Wir werden durch unsere Aktionäre und unsere Mitglieder kontrolliert, dazu gehören viele mittelständische Unternehmer», sagt Wicke. Auf der Mitgliederversammlung gebe es stets viele «konstruktiv kritische Fragen».
Die ungewöhnliche Governance hat bei Hannover Rück immerhin für eine grosse Kontinuität bei den Fach- und Führungskräften gesorgt. Das ist wichtig in einem Geschäft, in dem es auf Erfahrungswissen ankommt, um Risiken einzuschätzen und die richtigen Preise dafür zu verlangen. Die Underwriter seien oft fast ihr gesamtes Berufsleben lang bei Hannover Rück, es gebe keinen grossen Turnover, sagt Franz.
In der vergangenen Dekade hat die Struktur der Gruppe auch die erfolgreiche Sanierung von Talanx ermöglicht. Geschäftsentwicklung, Bewertung und Kursmomentum sprechen dafür, dass die Erfolgsgeschichte noch nicht zu Ende ist.