Samstag, November 23

Die Schweiz und der Instagram-Tourismus: An schönen Tagen bilden sich auf dem Grat oberhalb vom Stoos Menschenketten. Für die Sicherheit auf dem Weg sorgt ein Verein von Senioren. Doch wie lange noch? Eine Gratwanderung.

Auf dem Klingenstock, 1935 Meter über Meer, eingeklemmt zwischen den Kantonen Uri und Schwyz, starrt Sepp Betschart ins Graue. Wo Panoramatafeln Bergketten versprechen, liegt dicker Nebel.

Der Klingenstock ist sein Startpunkt: Betschart, 80-jährig, will auf den Gratwanderweg, so wie all die Wanderer, die die Sesselbahn vom Stoos kommend auf der Kuppe absetzt. Sie kommen zur Erholung, Betschart für die Arbeit.

In jahrelanger Fronarbeit hat er mit anderen Senioren den Weg über den Grat vom Klingen- zum Fronalpstock angelegt, den an Spitzentagen bis zu 2000 Menschen entlangwandern. Siebzehn Sommer haben sie bereits in den Ausbau investiert. Doch geht es nach Betschart, ist die Arbeit noch lange nicht abgeschlossen.

Er hat sich eine unendliche Baustelle geschaffen.

Der Ausbau begann pünktlich zu Betscharts Frühpension

Während die Touristen über den Weg hasten, um einen Blick durch ein Guckloch in der Nebeldecke zu erhaschen, konzentriert sich Betschart auf den Quadratmeter Kies vor seinen Füssen. Er sucht nach Stolperfallen, abgetrampelten Stufen, einem Stück Fels, das herausragt.

Vergeblich, scheint es. Der Weg zu Betscharts Füssen ist präpariert und zurechtgestutzt wie ein englischer Rasen.

Stück für Stück haben Betschart und seine Mitstreiter, alle pensionierte Handwerker aus der Region, den Weg in den Grat gegraben, ihn mit Kies überzogen und mit Holzplanken flankiert. Die Felsen sind säuberlich getrimmt und die schroffen Abgänge mit über tausend Stufen besänftigt. Die «Süddeutsche Zeitung» hat den Anblick von oben deswegen schon mit jenem auf die Chinesische Mauer verglichen. Mit Ästhetik hatte der Entscheid für Treppenstufen wenig zu tun. Stufen anzulegen, sei am beständigsten und am sichersten, sagt Betschart.

Der Ausbau begann vor siebzehn Jahren – pünktlich zu Betscharts Frühpensionierung. Zum Jubiläum der Schwyzer Wanderwege sollte der anspruchsvolle Trampelpfad auf dem Grat in einen Weg für Familien und Senioren verwandelt werden. Ein Jahr lang hätten alle mitgeholfen, Feriengäste, Flüchtlinge, die Senioren, mit Baggern sei man aufgefahren. «Und dann liess man den Weg liegen, wie ein Haus im Rohbau», sagt Betschart.

Die Menschen kamen trotzdem, denn 2007 eröffnete neben der Fronalpstockbahn die Klingenstockbahn – damit waren beide Enden des Grats einfach erreichbar. «Mit solchen Menschenmassen hätten wir nie gerechnet», sagt Betschart. 2013 gründete eine Gruppe Senioren den Verein Gratwanderweg Stoos, um die Arbeiten schneller voranzutreiben. Betschart ist Präsident.

Im Tal nennen sie den Weg Autobahn

Heute ist der Weg 1 Meter 20 breit, und an schönen Tagen bilden sich Menschenketten auf dem Grat. Die Wanderer kommen für eine Aussicht, so schön, dass man sie sich auf die Netzhaut tätowieren lassen möchte, wie es die Moderatorin Gülsha Adilji jüngst ausdrückte.

Instagram, Tiktok und Facebook haben das Panorama weit über Schwyz, weit über die Schweiz hinaus in die Welt getragen. In Videos schwärmen Influencer auf Englisch vom gut ausgebauten Weg. Betschart wird für Tourismuskampagnen eingespannt.

Der schönste Arbeitsplatz der Welt.

Im Tal nennen sie den Weg auch Autobahn – wegen des Staus unter blauem Himmel. Betschart nimmt es mit Humor: «Wir bauen immer noch für Fussgänger.»

Der luxuriöse Ausbaustandard sei nötig. Zu viele Unfälle seien passiert, Menschen auf schlammigen Wegen ausgerutscht oder über ungesicherte Hänge gestürzt. Einmal rollte eine Wirtin aus der Region vor Betscharts Augen eine Flanke herunter. Er, damals 65 Jahre alt, rannte ihr hinterher und konnte sie gerade noch vor einem weiteren Absturz bewahren. «Das könnte ich heute nicht mehr», sagt Betschart, mehr zu sich selbst.

Heute sind die Unfallstellen gesichert – oder verschwunden: Wo der Felsen steil ist, hängen Ketten. Wo Menschen ausglitten, führen Treppenstufen den Hang hinunter. Und im Dorf Stoos stehen «Friendly Hosts» in roten Jacken bereit, um auf das richtige Schuhwerk und die Anforderungen aufmerksam zu machen. Betschart sagt: «Wenn wir für Unfälle haften würden, würden wir diese Arbeit nicht machen.»

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Am Erfolg des Gratwanderwegs stören sich die wenigsten, denn er erschliesst eine wirtschaftliche Alternative zum dahinschmelzenden Wintertourismus, besonders für das Dorf gleich unter dem Grat, das autofreie Stoos. Abgesehen von Aussicht hat es wenig zu bieten. Diese hatte jedoch schon Queen Victoria vor über hundert Jahren zur Kur nach Morschach gelockt. Nun setzt der Stoos alles daran, dass die Menschen nicht nur für einen Tag kommen. Eine neue Bahn wurde gebaut, ein Hotel mit über hundert Betten hingestellt, neue Wanderwege angelegt. Stoos will mehr Gäste, aber nicht alle gleichzeitig auf dem Grat.

Die Grenze des Zumutbaren sei überschritten, liess ein Morschacher Gemeinderat 2019 im «Boten der Urschweiz» verlauten und kündigte den Bau eines Drehkreuzes auf dem Klingenstock an. Nur noch neunzig Wanderer sollten stündlich auf den Grat.

Es blieb bei der Ankündigung, ein Drehkreuz wurde nie installiert. Der Artikel? Ein Aprilscherz.

Die finanzielle Zukunft des Vereins ist gesichert

Betschart hat den letzten, steilen Anstieg vor dem Fronalpstock erreicht – er atmet schwer und freut sich auf ein Bier im Restaurant. Neben Streichelzoo, Panoramaterrasse und all den bequemen Touristen, die sich für die Sesselbahn direkt auf den Fronalpstock entschieden haben. Doch Betschart muss eine Pause einlegen.

Er setzt sich auf eine Bank und blickt zurück auf das letzte Stück Weg, das der Nebel freigelegt hat – und damit auch in die Zukunft. Mehrere Kiessäcke und Holzstapel stehen für die Arbeiten der nächsten Wochen bereit. Die besonders langen Bretter, für die es einen Spezialflug braucht, hat er bereits für das nächste Jahr anfliegen lassen.

Betschart ist 80 Jahre alt. Und auch seine Kameraden, die mit ihm auf dem Weg Frondienst leisten, werden älter. Ein Gründungsmitglied des Vereins ist bereits verstorben. Alles «treue Leute», sagt der Präsident Betschart. Um Nachwuchs bemüht er sich nicht. In zwei Jahren, vielleicht, wolle er das Präsidium abgeben. «Aber momentan ist dies nicht aktuell.»

Gesichert ist hingegen die finanzielle Zukunft. Der Verein hat kürzlich mit Tourismus Schwyz einen neuen Geldgeber verpflichten können. «Das gibt uns mehr Unabhängigkeit», sagt Betschart, als stünden sie erst ganz am Anfang ihres Projekts.


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