Das Uno-Flüchtlingswerk für Palästinenser zeigt sich nicht reformfähig und zementiert den Status quo des Nahostkonflikts. Es braucht neue Ansätze.
Das Uno-Hilfswerk für die Palästinenser UNRWA sei Teil des Problems und ein Hindernis für Frieden im Nahen Osten. Mit dieser Aussage in einem Interview hat der damals frischgebackene Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis 2018 bis weit über die Landesgrenzen hinaus für Aufsehen gesorgt. Zwar musste Cassis später zurückkrebsen und die weitere Finanzierung der Agentur durch Millionenbeiträge aus der Schweiz im Namen des Bundesrats mittragen. Doch die Analyse gilt heute genau gleich wie damals.
Das Thema und die Zitate von Cassis sind dieses Wochenende wieder durch einen auf israelischen Geheimdienstinformationen basierenden Bericht an die Oberfläche gespült worden. Dieser dokumentiert 12 Fälle von UNRWA-Mitarbeitern im Gazastreifen, darunter sieben Lehrer, die angeblich am Überfall der Hamas auf Israel vom 7. Oktober beteiligt waren.
Zudem sollen laut dem Bericht 23 Prozent der männlichen UNRWA-Mitarbeiter Verbindungen zur Hamas pflegen, rund 50 Prozent mehr als im Durchschnitt der Bevölkerung von Gaza. Die Vorwürfe haben am Wochenende eine Welle der Empörung ausgelöst und zahlreiche Länder, darunter die grossen Geldgeber USA und Deutschland, zur vorübergehenden Einstellung ihrer Zahlungen an die UNRWA (United Nations Relief and Works Agency) veranlasst.
Immer dasselbe: Beschwichtigen und Weitermachen
Der Schweizer Generalsekretär Philippe Lazzarini hat sofort getan, was die Chefs der UNRWA immer tun: Er beteuerte, es handle sich um bedauerliche Einzelfälle. Dafür könne nicht eine ganze Organisation mit 30 000 Mitarbeitern verantwortlich gemacht werden; deren Hilfe werde dringend gebraucht.
Genau diese Reaktion ist einer von zwei Gründen, weshalb die Kritiker der UNRWA recht haben: Die Organisation ist offenkundig nicht in der Lage, systemische Fehler anzuerkennen und auszumerzen. Sie ist so eingenommen von ihrer eigenen Unersetzlichkeit, dass sie sich gegen Kritik immunisiert. Denn die Vorwürfe und Indizien sind seit Jahrzehnten immer dieselben, und nichts scheint sich zu ändern: Die UNRWA ist Teil des ideologischen Raums, in dem sie operiert. Daraus folgen regelmässig Vorwürfe über einseitige Geschichts- und Lehrbücher und die Indoktrination von Schülern durch UNRWA-Lehrer bis hin zur Unterstützung von Terroranschlägen. Es sind immer Einzelfälle, aber sie hören nie auf.
Das komplett zu vermeiden, wäre auch schwierig. Die UNRWA rekrutiert ihre Mitarbeiter primär unter palästinensischen Einwohnern ihres Einsatzgebietes. Dass sich darunter auch Sympathisanten von Extremismus und Antisemitismus befinden, ist angesichts von deren grosser Zahl nicht auszuschliessen. Da nützen auch Tests bei der Rekrutierung und Ausbildungsmassnahmen nur beschränkt. Indem die Organisation diese systemische Schwäche abstreitet, macht sie sich unglaubwürdig.
Alle richten sich im Konflikt ein
Das zweite Problem ist das grundlegendere: Die Präsenz der UNRWA im Nahen Osten ist zwar lebenswichtig geworden für mittlerweile 5 Millionen Palästinenser in der Region, für die sie Unterkünfte, Lebensmittel, Ausbildung und teilweise auch Arbeitsplätze liefert. Genau damit trägt sie zur dauerhaften Zementierung des Konflikts statt zu dessen Lösung bei.
Es ist sehr bequem für die Konfliktparteien von der Hamas über die arabischen Nachbarn bis zu Israel, wenn sich die UNRWA um die Lebensgrundlagen der Bevölkerung kümmert. So entsteht viel Spielraum für Korruption und Selbstbereicherung innerhalb der palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland. Und so konnte sich die in Gaza regierende Hamas in aller Ruhe um den Bau von Waffenfabriken und Verteidigungsanlagen kümmern statt um den Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft.
Tausende von auf Israel abgefeuerten Raketen, die atemraubenden Tunnelanlagen unter Gazas Boden und der minuziös geplante Terroranschlag vom 7. Oktober zeugen davon. Die UNRWA-Flüchtlingslager halten seit über 70 Jahren die politische Illusion am Leben, die bei der Staatsgründung Israels vertriebenen Palästinenser bzw. deren Nachfahren könnten je zurückkehren – ein Zustand, der vor allem politischen Druck auf Israel ausüben soll.
Die Nachbarländer Jordanien und Libanon werden von der Notwendigkeit entlastet, eine dauerhafte Lösung für die in Flüchtlingslagern lebenden Palästinenser zu suchen. Aber auch für Israel ist die UNRWA letztlich bequem: Man kann sich ständig über sie beklagen, ist aber gleichzeitig froh, dass sie die soziale Lage im Westjordanland und in Gaza stabilisiert. Sie übernimmt staatliche Aufgaben in den besetzten Gebieten und verringert so die Notwendigkeit, einen palästinensischen Staat aufzubauen, den Netanyahus Israel verhindern will. Für die wichtigsten Parteien, die sich für eine Friedenslösung einbringen müssten, wird durch die UNRWA der Status quo tragbar gemacht.
Es braucht mehr Selbstverantwortung im Nahen Osten
Im Moment ist Nothilfe im Gazastreifen ein Gebot der Humanität. Die UNRWA und ihre logistischen Fähigkeiten werden dort kurzfristig gebraucht. Deshalb sollten ihr die dafür nötigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Doch sobald die Waffen in Gaza schweigen, sollte die Staatengemeinschaft über eine Nachfolgelösung für die UNRWA nachdenken.
Die Organisation hat sich als unfähig erwiesen, die von ihr selbst definierten Standards der Neutralität und Unbestechlichkeit zu garantieren. Zudem entlastet sie die am Konflikt beteiligten Parteien vom Zwang, Verantwortung zu übernehmen und sich für nachhaltige politische, soziale und wirtschaftliche Lösungen in der Region einzusetzen. Dezentralisierung, Selbstverantwortung und Realitätssinn sind Stichworte, welche die künftige Not- und Aufbauhilfe im Nahen Osten prägen sollten.