Freitag, Januar 3

Mitarbeiter des Uno-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge waren wohl am Hamas-Massaker beteiligt – nun steht die UNRWA vor einer existenziellen Krise. Im Westjordanland will die Organisation aufzeigen, warum sie weiterhin Geld erhalten sollte. Eine Reportage

«Ohne die UNRWA hätte mein Kind keine Medizin», sagt Mohammed Hamda. Der junge Vater sitzt im Gesundheitszentrum des Uno-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge in Bethlehem. Sein etwa einjähriger Sohn hat Schmerzen in der Brust. «Die Medikamente bekomme ich umsonst», sagt Hamda. Er sei bereits mehrere Male in dem prachtvollen Gebäude gewesen, das neben den heruntergekommenen Häusern im Aida-Flüchtlingslager im Westjordanland heraussticht.

Hierhin hat die UNRWA am Dienstag Vertreter internationaler Medien eingeladen. Das Hilfswerk braucht dringend gute PR, denn es steht kurz vor dem Kollaps. Die notorisch unterfinanzierte Uno-Organisation bekommt seit einigen Wochen noch weniger Geld: Seitdem Israel Ende Januar zwölf UNRWA-Mitarbeiter beschuldigte, sich am Hamas-Massaker vom 7. Oktober beteiligt zu haben, stellten 16 Geberländer vorübergehend ihre Zahlungen ein. Rund die Hälfte des Budgets ist eingefroren. Kurz darauf veröffentlichte Israel weitere Indizien, die den Vorwurf der Hamas-Nähe bestärkten. So entdeckte die israelische Armee unter dem UNRWA-Hauptquartier in Gaza einen Hamas-Tunnel und ein Kommunikationszentrum der Terrororganisation. Die UNRWA streitet ab, davon gewusst zu haben.

Im dritten Stock des Gesundheitszentrums in Bethlehem sitzt Adam Bouloukos. Der langjährige Uno-Diplomat aus den USA leitet seit anderthalb Jahren alle UNRWA-Aktivitäten im Westjordanland. «Schon im nächsten Monat werden wir eine erhebliche finanzielle Krise erleben», sagt Bouloukos bei einer Pressekonferenz vor Vertretern internationaler Medien. «Ohne die Zuwendungen der Geberländer wird die UNRWA kollabieren.»

Die Krise der UNRWA

Die zwanzig grössten Geberländer, Stand 2022, US-Dollar

(in Millionen)

Haben Spenden ganz oder teilweise ausgesetzt

UNRWA spielt eine wichtige Rolle in Krisenzeiten

Im Westjordanland betreibt die UNRWA Schulen, Gesundheitszentren und öffentliche Infrastruktur in insgesamt 19 sogenannten Flüchtlingslagern. Diese etablierte das Hilfswerk nach der israelischen Staatsgründung 1948. Zu Beginn waren es Zeltstädte, in denen vertriebene Palästinenser unterkamen. Über die Jahre entwickelten sie sich zu stetig wachsenden Quartieren mit richtigen Häusern. Auch in den engen Gassen im Aida-Lager in Bethlehem, wo etwa 8000 Menschen leben, hallt der Baulärm wider, einige zusätzliche Etagen werden auf den Wohnhäusern errichtet.

«Sollten wir morgen kein Geld mehr haben, wird hier niemand den Abfall einsammeln, die Kinder können nicht zur Schule gehen, und die Menschen erhalten keine Gesundheitsversorgung mehr», sagt Bouloukos. Die öffentliche Versorgung im fragilen Westjordanland bräche zusammen – und das zu einer Zeit, in der das Gebiet ohnehin schon unter einem enormen Wirtschaftseinbruch leidet.

Rund 200 000 Palästinenser, die vor Kriegsbeginn in Israel arbeiteten, haben ihren Job verloren, und die arabischen Israeli kommen nicht mehr ins palästinensische Gebiet, um dort einzukaufen. Laut dem Statistikbüro der Palästinensischen Autonomiebehörde lag die Arbeitslosenquote im Westjordanland im vierten Quartal 2023 bei etwa 33 Prozent.

«Wir sind ein grosser und wichtiger Arbeitgeber im Westjordanland», sagt Bouloukos. «Anders als viele andere Unternehmen im Westjordanland oder auch die Palästinensische Autonomiebehörde bezahlen wir immer 100 Prozent des Lohns.» Viele seiner 3700 Angestellten im Westjordanland hätten ihm bereits gesagt, dass sie mit ihrem Gehalt nun weitaus mehr Menschen unterstützten als noch vor dem Krieg, berichtet Bouloukos.

«Ein UNRWA-Mitarbeiter hat meinen Sohn entführt»

In Israel interessiert das nicht. Dort dominieren die Vorwürfe über die Verbindungen zwischen UNRWA-Mitarbeitern und der Hamas die Nachrichten. Laut dem israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant sind 12 Prozent der etwa 13 000 UNRWA-Angestellten in Gaza entweder mit der Hamas oder der militanten Palästinensergruppe Islamischer Jihad verbunden.

Vor kurzem veröffentlichte Israel den Namen eines Mitarbeiters, der am Massaker beteiligt war. Das Video einer Überwachungskamera aus dem Kibbuz Beeri zeigt, wie der UNRWA-Mitarbeiter Faisal Ali Musalam Naami gemeinsam mit einem weiteren Mann einen getöteten Israeli aus dem Kibbuz in einen weissen Pick-up-Truck hievt. Die «Washington Post» hat das Video und die Identität von Naami verifiziert.

Der Mann, dessen Leiche der UNRWA-Mitarbeiter Naami durch die Strassen gezogen hat, ist Jonathan Samerano. Der 21-Jährige hatte sich vom Nova-Musikfestival in den Kibbuz gerettet. Dort wurde er von den Terroristen ermordet – seine Leiche ist immer noch in Gaza.

Einen Tag nach dem PR-Termin der UNRWA in Bethlehem tritt die Mutter des getöteten Jonathan im Untergeschoss des Kunstmuseums von Tel Aviv vor die Medien. Ayelet Samerano kämpft mit den Tränen, als sie von Jonathan erzählt. «Ein UNRWA-Mitarbeiter hat meinen Sohn entführt», sagt sie am Mittwochabend in die aufgestellten Kameras. «Wie kann die Uno so jemanden bezahlen?»

Adam Bouloukos hat darauf keine Antwort. Der Amerikaner verweist darauf, dass die UNRWA keinen Einfluss auf die unabhängige Untersuchungskommission nimmt, die momentan die Vorwürfe der Terrornähe einiger UNRWA-Mitarbeiter prüft. «Zu jedwedem Material oder neu veröffentlichten Namen kann ich nichts sagen, da ich kein Teil der Ermittlungen bin», sagt der UNRWA-Chef im Westjordanland. Die UNRWA hat alle von Israel beschuldigten Mitarbeiter sofort entlassen.

Viele Israeli verstehen Ayelet Samerano. Sie wollen die UNRWA ein für alle Mal abschaffen. In Gaza hat das Hilfswerk mit hoher Wahrscheinlichkeit Menschen beschäftigt, die am Hamas-Massaker beteiligt waren. Doch für viele Palästinenser sind die UNRWA-Institutionen überlebenswichtig. Im Westjordanland ist die Organisation eine der letzten Stützen einer zerfallenden Gesellschaft, die ohne UNRWA ins Chaos stürzen und nur noch mehr Terrorismus hervorbringen würde.

Der vererbte Flüchtlingsstatus

Bouloukos hat eine Idee, warum so viele Israeli seine Institution abschaffen wollen. «Sie hoffen, dass mit der UNRWA auch das Problem der Flüchtlinge verschwindet.» Mit anderen Worten: Israel und die Welt müssten sich ohne UNRWA nicht mehr um das Schicksal der Palästina-Flüchtlinge kümmern.

Aber wer ist überhaupt ein Flüchtling? Nach dem UNRWA-Mandat wird der Flüchtlingsstatus vererbt. Auch die Kinder und Enkelkinder von einst vertriebenen Palästinensern haben Anspruch auf Leistungen des Uno-Hilfswerks. Als ihre Heimat sehen sie nicht die Flüchtlingslager, sondern Orte im heutigen Israel. Sichtbar ist das im Lager überall. An einer Wand prangt ein Graffito, das das gesamte ehemalige Mandatsgebiet Palästina in eine palästinensische Flagge taucht – Israel existiert darauf nicht. Darüber steht: «We will return.»

Nach der Pressekonferenz tritt der Chef der UNRWA im Westjordanland auf die Strassen des Aida-Lagers. Eine Traube von Journalisten umringt den kurzhaarigen Mann mit Vollbart. Es wird die Frage gestellt, die unweigerlich aufkommt, wenn man sich mit der UNRWA beschäftigt: Ist das Mandat des Uno-Hilfswerks noch zeitgemäss, sind all diese Menschen im Aida-Lager immer noch Flüchtlinge – 75 Jahre nach der Staatsgründung Israels?

«Das Mandat hat sich nicht verändert, weil es immer noch keine gerechte Lösung des Konflikts gibt», sagt Bouloukos, als er durch das Aida-Lager geht. «Der Konflikt ist immer noch da.» Immerhin das ist eine Aussage, auf die sich Israeli und Palästinenser, Gegner und Befürworter der UNRWA einigen können.

Exit mobile version