Sonntag, November 24

Die US-Zeitschrift «County Highway» versucht ein radikales Experiment: Sie erscheint nur alle zwei Monate – und nur auf Papier. Der Mitgründer Walter Kirn betont die Bedeutung von Geschichten aus dem ländlichen Amerika.

Die Lancierung von «County Highway» war keine grosse Sache: kein Marketing, keine Kampagne, nur Mundpropaganda für ein Magazin unter der Leitung der Journalisten David Samuels und Walter Kirn. Für 8 Dollar 50 erhält man einzig eine gedruckte Zeitung im sperrigen Grossformat, entweder per Post oder im örtlichen Buchladen.

Umso erstaunlicher ist der Erfolg des Nischenprodukts: Aufgrund der Lesernachfrage stieg die Auflage von 5000 gedruckten Exemplaren auf 17 500. Nach drei Wochen war die fürs dritte Jahr anvisierte Gewinnschwelle bereits überschritten, mittlerweile hat «County Highway» über 8000 Abonnenten. Der Mitgründer Kirn erklärt am Telefon von seinem Zuhause im ländlichen Montana aus, warum ein scheinbar altbackenes Medium Zukunft haben kann.

Herr Kirn, in der digitalisierten Medienwelt von heute ist Ihre neue Zeitung «County Highway» ein Anachronismus: ellenlange Texte aus der Bleiwüste, keine Onlineausgabe. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Wir erachten das späte 19. Jahrhundert als Höhepunkt der amerikanischen Literatur, denken Sie an Autoren wie Mark Twain und Herman Melville. Die Gründung einer Zeitung im Stil des 19. Jahrhunderts, mit dem entsprechenden Drucksatz, den Schlagzeilen, dem Grossformat, ist eine Hommage an die Form und einen verlorenen ästhetischen Wert.

Der da wäre?

Ein Onlineartikel existiert nur während der Lektüre und für den Leser allein. Eine physische Zeitung dagegen löst eine offene, unvorhersehbare Aufmerksamkeitskette aus. Sie bleibt im Café, im Bus oder im Taxi liegen, man findet sie beim Coiffeur oder im Airbnb. Weil sie viel Text hat, der über Wochen konsumiert werden kann, wird die Zeitung Freund und Gefährte, der auf dem Kaffeetisch wartet, um genossen zu werden. Das schafft ein Gefühl von Intimität, Privatsphäre und Gemeinschaft.

Es ersetzt auch Werbung und Marketing auf digitalen Kanälen und in sozialen Netzwerken. Was bringt der Verzicht auf Technologie noch?

Wenn Sie elektronische Medien lesen, werden Sie heute als Leser getrackt. Ihre Klicks, wie lang und ob Sie einen Artikel zu Ende lesen – all das dient der digitalen, korporativen und kommerziellen Überwachung. Unsere Zeitung macht das nicht: Sie spioniert ihre Leser nicht aus.

Leisten Algorithmen nicht auch einen Dienst am Leser, indem sie das Artikelangebot individualisieren und mit Newslettern und anderen Produkten ergänzen?

Eine Zeitung, die nicht auf Sie persönlich zugeschnitten ist, ist eine Tugend. So können Sie Neues entdecken, was der Algorithmus normalerweise nicht gewählt hätte. Bei «County Highway» teilen sich gegensätzliche Themen den Raum auf dem Papier und buhlen um das Auge der Leser. Online erscheint eine Story isoliert, im Vakuum des Bildschirms, sie hängt in der Dunkelheit des Universums. Die gedruckte Zeitung ist eine lebendige Collage für Auge und Geist, ein Blumengesteck voller Storys und Stimmen.

Warum nennen Sie Ihr Blatt «Amerikas einzige Zeitung»?

Natürlich haben wir schon von der «New York Times» und der «Washington Post» gehört. Aber diese Zeitungen schützen nationale Reichweite nur vor. Tatsächlich sind sie heute technokratische Unternehmen, interessiert an den Geschehnissen in grossen Städten und den Mächtigen der Gesellschaft. Wir dagegen sehen das Land als Flickenteppich von mittelgrossen Städten und ländlichen, spärlich besiedelten Gegenden, die wir gleich behandeln. Weil wir um vergessene Ecken schauen und die ganze Bandbreite an Erfahrungen im Land abdecken, bringen wir Geschichten, die nirgends sonst erzählt werden.

Sie richten sich also an Fly-over-Country, womit die weniger besiedelten Gebiete zwischen der Ost- und der Westküste gemeint sind?

Dieser herablassende Ausdruck erachtet weite Striche des Landes als zweitrangig. Das ist falsch: Jeder Gliedstaat hat zwei Senatoren, das Elektorensystem bei Präsidentschaftswahlen bevorteilt Mittel-Amerika bezüglich politischen Gewichts sogar. Aber das wird von unserer Presse nicht gespiegelt – ausser vielleicht während Präsidentschaftswahlen, wenn der Press Corps in die Pampa ausschwärmt. Danach herrscht dort wieder jahrelang journalistische Stille und Finsternis.

Das erinnert mich an die berühmte Landkarte auf der Titelseite des «New Yorker», wo Amerika auf der anderen Seite von Manhattan aufhört.

Diese Perspektive drehen wir um, arbeiten von innen nach aussen. David und ich haben jahrzehntelang für New Yorker Magazine gearbeitet. Wir stellen eine Realitätsverzerrung fest: Diese Medien sind insulare, mit sich selbst beschäftigte Institutionen, die ihre urbane Umgebung beschreiben, jedoch dem Rest des Landes weniger Storys widmen und weniger Respekt zollen. Aber wir sind nun einmal nicht nur ein Land der Anwälte und Unternehmenshauptsitze. Wir sind ein Land der Bauernhöfe, Indianerreservate, Militärbasen, Flüsse und Berge. Das getreuer und vertrauenswürdiger abzubilden, ist ein Ziel von uns.

Prägt das auch die redaktionellen Richtlinien für die Auswahl von Geschichten?

Vielfalt von geografischen und sozialen Orten ist wichtig: vom ländlichen Kansas bis in die Wüste Kaliforniens. Die Wichtigkeit einer amerikanischen Story ist nicht eine Funktion von Bevölkerungsdichte oder Wohlstand. Klar bringen wir auch Geschichten aus New York, Washington und Los Angeles, aber wir behandeln sie nicht als imperiale Zentren, sondern wie jede andere amerikanische Stadt auch. Wir wollen humor- und liebevoll der schrulligen Vielfalt unseres Landes Rechnung tragen.

Und konkret heisst das?

In der ersten Ausgabe widmeten wir einen Schwerpunkt dem Thema Weizenanbau in Kansas, neben einer Jeremiade gegen Big Tech und Social Media, die man in den besten Fachmagazinen finden könnte. In Ausgabe zwei gab es eine grosse Landwirtschafts-Story über Maultiere, ihre Zucht und ihre geschichtliche Bedeutung – neben einer Reportage von einem Wrestling-Fest in Puerto Rico.

Sie wollen den Dialog zwischen den Bevölkerungsteilen fördern.

In den USA sehen wir seit jüngerer Zeit eine Tendenz zur Tribalisierung, zum Rückzug nach innen. Wollen wir hier gegensteuern, kritisieren, korrigieren? Absolut, ja.

Und doch stellen Sie literarische Qualität und exklusives Lesevergnügen in den Vordergrund. Ist das nicht selber abgehoben und elitär?

Hoffentlich sind hohe literarische Ansprüche nicht per definitionem Luxus für Eliten. Der Preis von 8 Dollar 50 ist es sicher nicht. Dafür erhalten Sie Lesestoff für Wochen. Und der ist weder idyllische hinterwäldlerische Phantasie in der Schneekugel, noch richtet er sich an Experten symbolistischer Poesie oder James-Joyce-Forscher. Unser Markt sind Leute, die lesen können und gute Sprache und Stil schätzen. Eine Zeitung ist für jedermann und keine Eliteveranstaltung.

«County Highway» kann man in Paris und in London in der Buchhandlung kaufen. Wie kommt man in der Schweiz an die Zeitung?

In der Schweiz haben wir noch kein Outlet, aber wir werden’s versuchen! «County Highway» passt zum Schweizer Geist. Die Schweiz wandelt sich als Land ja gewissermassen, indem sie sich nicht ändert. Sie ist ihrer ländlichen Tradition zugeneigt und gleichzeitig eines der Zentren von internationalem Handel und globalen Gedanken.

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