Russische Truppen setzen offenbar chemische Kampfstoffe und Tränengas ein, um die Ukrainer aus ihren Stellungen zu vertreiben. Jetzt hat Washington neue Sanktionen gegen Moskau verhängt.
Es beginnt mit einem brennenden Gefühl in den Augen, in der Nase und im Rachen. Dann setzt die Atemnot ein, oftmals verbunden mit einem Brechreiz. Im schlimmsten Fall kommt es zu einem Lungenödem – die Ansammlung von Flüssigkeit in der Lunge kann tödlich sein. Chloropikrin ist ein heimtückischer Kampfstoff. Weil das Gas schwerer als Luft ist, bleibt es etwa in Schützengräben lange hängen. Schon im Ersten Weltkrieg setzten es die Deutschen an der Front ein – und auch die Russen nutzen es in ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Schon seit Monaten beschuldigen die Ukrainer Russland, an der Front verbotene chemische Kampfstoffe einzusetzen. Nun hat erstmals das amerikanische Aussenministerium diesen Verdacht bestätigt. Russland setze sowohl den Kampfstoff Chloropikrin wie auch herkömmliches Tränengas ein, hiess es in einer Mitteilung am Mittwoch. «Der Einsatz solcher Chemikalien ist kein Einzelfall und wird wahrscheinlich von dem Wunsch der russischen Streitkräfte angetrieben, die ukrainischen Streitkräfte aus befestigten Stellungen zu vertreiben und taktische Gewinne auf dem Schlachtfeld zu erzielen», schreibt das Ministerium. Der Kreml wies die Vorwürfe als «haltlos» zurück.
«Fast tägliche» Gasangriffe an der Ostfront
Chloropikrin ist gemäss der Konvention über das Verbot chemischer Waffen ein verbotener Kampfstoff. Das Übereinkommen von 1997, das Russland, die USA und die Ukraine unterzeichnet haben, verbietet die Herstellung, die Lagerung und den Einsatz von Chemiewaffen. Die Unterzeichnerstaaten verpflichteten sich damals, ihre Bestände bis 2012 unter internationaler Aufsicht zu vernichten. Das Tränengas, das Russland ebenfalls an der Front einsetzt, fällt zwar nicht unter dieses Verbot – es wird in vielen Ländern von der Polizei bei Demonstrationen oder Ausschreitungen eingesetzt.
Doch die Chemiewaffenkonvention verbietet den Einsatz von Tränengas für kriegerische Zwecke. Denn Demonstrationsteilnehmer können in der Regel ohne weitere Gefahren die Flucht ergreifen. Soldaten an der Front hingegen riskieren ihr Leben, wenn sie ihre Schützengräben verlassen. Laut Berichten von ukrainischen Soldaten hat der Einsatz von Tränengas durch russische Truppen in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen. Offenbar werden die Gasgranaten in der Regel von kleinen Drohnen über den ukrainischen Schützengräben abgeworfen.
Gegenüber dem «Guardian» sprach im April ein ukrainischer Offizier von «fast täglichen» Gasangriffen an der Ostfront. Laut Oberst Serhi Pachomow, dem amtierenden Chef der atomaren, biologischen und chemischen Verteidigungskräfte der Ukraine, wurden in den vergangenen sechs Monaten 900 Angriffe mit Tränengas registriert. 500 Soldaten hätten danach medizinische Behandlung benötigt, einer sei gar erstickt. Die Armee hat nun damit begonnen, Gasmasken zu verteilen und spezielle Übungen durchzuführen.
Neue Sanktionen gegen Russland
Das amerikanische Aussenministerium wirft Russland die «anhaltende Missachtung der Verpflichtungen» aus der Konvention vor. Sein Vorgehen an der Front entstamme «demselben Handbuch wie die Operationen zur Vergiftung von Alexei Nawalny und Sergei und Julia Skripal mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok».
Deshalb haben die USA nun weitere Sanktionen gegen Russland verhängt. Diese richten sich gegen drei staatliche Einrichtungen, die mit Moskaus chemischen und biologischen Waffenprogrammen in Verbindung stehen. Auch vier russische Unternehmen, die diese Einrichtungen unterstützen, wurden mit Sanktionen belegt. Ihre Vermögenswerte in den USA werden eingefroren, und amerikanischen Unternehmen ist es verboten, mit ihnen Geschäfte zu machen.

