Der internationale Jetset entdeckt die Berge neu. Normale Hotels werden von Nobelhäusern verdrängt. Schweiz Tourismus will ein noch grösseres Stück vom Fünfsternkuchen. Doch wo bleiben die Schweizer Wintersportler?
Das «White Marmot» ist keine normale Après-Ski-Beiz. Es ist ein Gourmettempel am Berg. Um drei Uhr nachmittags läuft das Servicepersonal in Kolonnen, um Champagner, Steak und ganze Fische zu servieren. Letztgenannte werden direkt am Tisch angerichtet.
Während sich die Pisten leeren, ist die Sonnenterrasse des Restaurants hoch über St. Moritz bis auf den letzten Platz besetzt. Die Aussicht über das verschneite Dorf und den gefrorenen See ist unschlagbar. Gegen die strahlende Sonne stehen Strohhüte parat, und damit man die Füsse lüften kann, gibt’s Finken. Viele Gäste haben modisch jedoch vorgesorgt und präsentieren sich im noblen Après-Ski-Look: Moonboots, übergrosse Sonnenbrillen und Pelzhüte.
St. Moritz hatte schon immer eine Sonderposition im Tourismusland Schweiz. Das ikonische Bergdorf ist höher gelegen, mondäner, internationaler. Der zur Schau gestellte Luxus ist dem gemeinen Schweizer Wintersportler suspekt. Er macht seine Schwünge lieber woanders. Dort, wo im Pistenrestaurant die Ski-WM übertragen wird und man sich die Bratwurst mit Pommes frites selber holen muss.
Doch seit einigen Jahren ist in den Alpen eine Verschiebung im Gange. Sie geht langsam, aber stetig vonstatten. Man könnte sie zusammenfassen unter: weniger rustikale Bergromantik, mehr Exklusivität. Oder auch: weniger Saanenmöser, mehr St. Moritz.
Die Zahlen, welche der Branchenverband Hotelleriesuisse für die «NZZ am Sonntag» ausgewertet hat, sind eindeutig: Gab es 2010 in den Schweizer Bergregionen noch 253 Hotels im Vier- und Fünfsternbereich, waren es 2023 bereits 304. Viele weitere sind in Planung. Die Anzahl Hotelbetriebe in niedrigeren Kategorien fiel von 2900 auf 2350.
Gleichzeitig stagniert die Zahl der Hotelübernachtungen in den Alpengebieten: Über alle Kategorien hinweg liegen sie damals wie heute bei etwas über 17 Millionen Logiernächten. Anteilsmässig konnte der Luxusbereich jedoch massiv zulegen. 2010 wurden 4,8 Millionen Übernachtungen in Vier- und Fünfsternhotels gezählt, 2023 waren es über 6,2 Millionen.
Der Alpentourismus erlebe gerade eine Renaissance im grossen Stil, sagt Jürg Schmid. Der frühere Direktor von Schweiz Tourismus ist heute Präsident von Graubünden Tourismus. «In der Pandemie, als wir alle zwangseingesperrt waren, entwickelte sich ein riesiges Bedürfnis danach, draussen zu sein. Naturräume haben wieder enorm an Bedeutung gewonnen.»
Gleichzeitig profitiert die Hotellerie von unerwarteter Schützenhilfe der Weltmärkte. Wegen der hohen Inflation im Ausland sind Schweizer Bergferien überraschend preiswert – zumindest auf der Stufe von vier und fünf Sternen. So kostet ein Hotelzimmer in St. Moritz auf dem Papier gleich viel wie etwa im amerikanischen Exklusiv-Skiort Aspen. Aber dort kommen dann noch Trinkgelder und Steuern obendrauf.
«Die Schweiz ist durch die Kostenschübe in den anderen Ländern plötzlich wieder konkurrenzfähig geworden – jedenfalls im High-End-Tourismus. Die Preise in der Luxushotellerie haben sich international angeglichen», sagt Jürg Schmid. Ganz unabhängig davon, in welchem Nobelort man nun buche: St. Moritz, Cortina d’Ampezzo in Italien oder Courchevel in Frankreich.
Letztgenanntes gilt in den Alpen als Prunkresort in Vollendung. Courchevel ist weltberühmt für seine zwei Dutzend Fünfsternpaläste, seine von Luxusmarken gesponserten Gondeln und den Privatflugplatz direkt auf der Piste. Quasi ein von weissen Berggipfeln umringtes Disneyland der Opulenz.
Die neue Attraktion heisst «Billionaire»
Zur Schau gestellte Dekadenz kann man aber auch in der Schweiz. Im «Grand Hotel des Bains Kempinski», etwas ausserhalb des Dorfes St. Moritz, kostet der Signature-Cocktail 29 Franken. Er schmeckt, als trinke man eine aromatisierte Wolke. Hier ist im Dezember eine Niederlassung des Klubkonzepts «Billionaire» aufgegangen, welches dem schillernden italienischen Geschäftsmann Flavio Briatore gehört. Wer hier feiert, legt wenig Wert auf Understatement.
Das «Billionaire» ist eine Mischung aus Restaurant, Zirkusshow und Nachtklub. Der Eintritt kostet 300 Franken. Es ist nur eine von vielen neuen Attraktionen in St. Moritz, welche in diesem Winter neu eröffnet haben. Und welche neben den etablierten Veranstaltungen wie dem Pferdesport-Event White Turf um Publikum buhlen.
Das Dorf hat sich modernisiert und verjüngt. Direkt am Bahnhof verkauft ein Zürcher Szenegastronom Pizza mit weisser Champagnersauce und Trüffeln. Die Luxusuhrenmarke Audemars Piguet hatte sich im Januar für einen temporären Laden in eine Villa eingemietet. Es war das erste Mal, dass Audemars Piguet seine Uhren – die günstigsten gibt es ab 17 000 Franken – ausserhalb seiner eigenen Boutiquen anbot.
«St. Moritz trifft den Zeitgeist. Das Angebot ist enorm vielseitig, trotzdem hat es nicht zu viele Leute», sagt Richard Leuenberger, Direktor des «Badrutt’s Palace», des wohl legendärsten Hotels auf Schweizer Boden. «Die Gäste wollen abseits der Welt sein und trotzdem mittendrin. Dieser Mix gelingt uns derzeit sehr gut.»
Das «Badrutt’s» hat seinen Namenszusatz «Palace» nicht gestohlen. Die Hotellobby gilt als Laufsteg von St. Moritz. Den Gästen stehen unter anderem eine riesige Wellnessanlage, elf Restaurants und eine hoteleigene Eisbahn zur Verfügung. Im Februar kostet das günstigste Zimmer – mit Dorf- statt Seeblick – 1830 Franken die Nacht.
An den Bahnhof oder den Privatflughafen Samedan wird man mit dem hauseigenen Rolls-Royce Phantom, Baujahr 1968, chauffiert, der einst der Queen gehörte. Da drin zu sitzen, muss sich selbst für Milliardäre besonders anfühlen. Doch bei allem Retro-Chic investiert das Fünfsternehaus jedes Jahr Dutzende Millionen in seine eigene Modernisierung.
Mitte Januar ging ein komplett neuer Hotelteil auf, welcher sich vom Haupthaus sichtlich unterscheidet. Statt im gemütlichen Belle-Époque-Stil werden die 25 neuen Zimmer und Suiten von einem modernen italienischen Design geprägt.
«Wir gehören zu keiner Kette, und die Aktionäre haben entschieden, nichts aus dem Hotel rauszunehmen. Keine Dividenden oder sonstigen Gelder. Das bedeutet: Alles, was wir verdienen, können wir wieder reinvestieren», sagt der «Badrutt’s»-Direktor Richard Leuenberger.
Das macht sich bezahlt. Als er 2016 angefangen habe, habe das «Badrutt’s» einen Umsatz im mittleren zweistelligen Millionenbereich erzielt. «Heute generiert das Hotel einen hohen zweistelligen Millionenbetrag, und wir haben viel mehr Geld für Investitionen.» Die Anzahl Mitarbeiter stieg von 490 auf 650.
Erstmals in der Geschichte des «Badrutt’s» habe man in diesem Januar eine Auslastung von über 90 Prozent erzielt, sagt Leuenberger. Das frühere Januarloch zwischen dem russischen Neujahr und dem WEF gibt es nicht mehr.
Ein «Four Seasons» für Gstaad
Dass die Schweiz beim internationalen Jetset gerade hoch im Kurs ist, weiss man natürlich auch bei Schweiz Tourismus, der Vermarktungsorganisation der Branche. Sie hat vor Weihnachten angekündigt, eine neue Abteilung, «Luxusmarkt», zu schaffen. Das Ziel: die Superreichen weltweit direkter ansprechen und in die Schweiz locken.
Derzeit machen Buchungen in Fünfsternhotels rund 8 Prozent der Übernachtungen in der Schweiz aus. Weil diese Gäste so viel Geld ausgeben, generieren sie aber zwischen 25 und 30 Prozent des touristischen Gesamtumsatzes. «Die Schweiz hat bereits einen sehr hohen Stellenwert für internationale Luxusreisende. Es besteht aber noch Potenzial, ein grösseres Stück von diesem Kuchen abzuschneiden», schreibt Schweiz Tourismus auf Anfrage.
«Der Standortfaktor spricht für mehr Luxus. Die Schweiz hat hohe Kosten. Es ergibt also Sinn, sein Angebot in den Luxusbereich zu verschieben, wo man mit hohen Preisen die hohen Kosten decken kann», sagt Matthias Fuchs. Der Ökonom ist Dozent an der Hotelfachschule EHL in Lausanne und berät in dieser Funktion auch Luxusfirmen.
Fuchs bricht nüchtern herunter, was die klassischen Schweizer Mittelstands-Skigebiete umtreibt. Sie stehen unter finanziellem Dauerstress. Da die Schneefallgrenze Jahr für Jahr steigt, sind teure Investitionen in Beschneiungsanlagen notwendig. Gleichzeitig sind die Kosten für Energie und Löhne stark angestiegen.
Schultern müssen das die Kunden. Gemäss dem Freizeitindex des Vergleichsportals Comparis sind Winterferien jüngst deutlich teurer geworden. Gegenüber 2019 kosten Winterferien 10 Prozent mehr. Verkaufen kann man das natürlich besser, wenn man das Produkt exklusiver verpackt.
Aber gibt es auch genug Leute, die das bezahlen können und wollen? «Die Nachfrage nach Luxuserfahrungen ist riesengross, während die Nachfrage nach Luxusgütern schwindet. Reisen und immaterielle Dinge ersetzen ein Stück weit die Handtaschen und die Uhren», sagt Matthias Fuchs.
Die Entwicklung geht jedoch nicht ohne Nebengeräusche. Luxushotels stehen inzwischen auch an Orten, die man als bodenständig kannte. In Engelberg gibt es seit 2021 ein «Kempinski». Im Berner Oberländer Bergdorf Wengen hat in diesem Winter das erste Fünfsternhotel eröffnet, ein weiterer Komplex ist in Planung. Das Dorf ist gespalten.
Die Preisspirale dreht sich. Im autofreien Zermatt geben in dieser Saison die teilweise um 300 Prozent gestiegenen Taxipreise zu reden. Aus der günstigen Gemengelage holt jeder, der kann, noch ein paar Franken heraus.
Aber: Nur auf Luxus zu setzen, geht auch nicht. Zumindest, wenn man auch einheimische Touristen behalten möchte. In Gstaad wird 2026 mit dem «Four Seasons» ein weiteres Fünfsternhotel aufgehen. «Wir müssen aufpassen, dass die Balance nicht kippt. In Sachen Fünfsternhotels sind wir gut aufgestellt. Ich würde mir eher noch ein Drei- oder Viersternhotel wünschen», sagt Flurin Riedi, Tourismusdirektor in der Berner Oberländer Nobelgemeinde.
Denn laut einer bisher unveröffentlichten Umfrage von Schweiz Tourismus übernachten Schweizerinnen und Schweizer mehrheitlich (44 Prozent) in Dreisternhotels, wenn sie in den Bergen Ferien machen. 38 Prozent residieren in einem Viersternehaus, und nur 6 Prozent gönnen sich fünf Sterne.
Ganz anders die Situation bei den Amerikanern, welche knapp hinter den Deutschen die zweitgrösste ausländische Touristengruppe stellen. Dank international gültigen Skiabos wie dem Epic Pass (Andermatt, Crans-Montana, Verbier) und dem Ikon Pass (St. Moritz, Zermatt) zieht es derzeit besonders viele von ihnen in die Schweiz.
Die Amerikaner buchen laut der Schweiz-Tourismus-Umfrage mehrheitlich Vierstern- (41 Prozent) und Fünfsternhotels (25 Prozent). Dreisternhäuser (24 Prozent) sind dagegen weniger beliebt.
Das Geheimnis der Schweizer Berge
Und langsam gewöhnt man sich auch hierzulande an die neuen Standards. Mit Winterferien verhält es sich ähnlich wie mit der Wohnungssuche in Zürich: Das Land nimmt gerade Abschied von der Vorstellung, dass es das noch in Günstig gibt. Entweder hat man es, oder man bleibt draussen.
«Früher war der Schweizer Kunde nicht bereit, mehr als 1000 Franken für eine Nacht im Hotel zu zahlen – egal, wie reich er war», sagt Richard Leuenberger vom «Badrutt’s Palace». Dies habe sich geändert, denn die Tarife in der Luxushotellerie seien allgemein stark gestiegen. «Wenn man auf den Malediven 2500 für ein Zimmer zahlen kann, tut man es auch bei uns.»
Was ist also das Geheimnis der Alpen? Warum fühlen sich Milliardäre, Firmenchefs und Hollywoodstars, die irgendwo auf der Welt Ferien machen könnten, gerade hier so wohl? Das Skifahren ist es jedenfalls nicht. Sowohl in St. Moritz wie auch in Gstaad betreiben deutlich weniger als die Hälfte der Wintertouristen Schneesport.
«Unsere Gäste kommen hierher, weil sie sich bei uns sicher fühlen. Hier oben ist die Welt noch normal. Das ist ein Wert, den wir hierzulande unterschätzen», sagt Leuenberger, der im Emmental aufgewachsen ist und vor seiner Anstellung in St. Moritz in Asien lebte.
«Im Sommer vermieten wir unseren Gästen Velos und geben ihnen einen Cervelat mit. Den bräteln sie dann irgendwo am See. Bei sich zu Hause würden sie das nie tun.»
Tatsächlich erscheint St. Moritz in diesen Tagen wie ein elegantes Refugium in einer Welt, in der keine Regeln mehr zu gelten scheinen. Die Nachrichtenlage auf dem Handy erschlägt einen geradezu. In ihrem Alltag sind die Top-Shots, die in St. Moritz Ferien machen, mittendrin in diesem Chaos.
Ganz anders auf der Terrasse des «Badrutt’s Palace». Die verschneiten Felswände wirken wie ein Schutzwall gegen die Unordnung. Hier oben gibt es die Zumutungen des Alltags nicht mehr. In St. Moritz ist man nicht nur reich und schön – sondern auch frei.
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