Mittwoch, März 26

In Grossbritannien explodieren die Sozialkosten. Während Experten noch über die Gründe rätseln, warum psychische Erkrankungen bei der jungen Generation stark zunehmen, versucht die Labour-Regierung das Steuer herumzureissen.

Mandeep Singh spricht von einem «perfekten Sturm». Der Kinder- und Jugendpsychiater hat die markante Zunahme von psychischen Erkrankungen bei britischen Jugendlichen in den vergangenen Jahren hautnah miterlebt. Er arbeitet in London in einer stationären Klinik und einem Ambulatorium des Nationalen Gesundheitsdienstes (NHS).

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Singh sagt, dass er nicht nur mit jungen Patienten mit schweren Psychosen in Kontakt komme, sondern vermehrt auch mit Jugendlichen, die an Depressionen und Angststörungen litten. Dabei fehle es dem völlig überlasteten staatlichen Gesundheitsdienst an Kapazitäten, um die Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. «Gerade Jugendliche aus bildungsfernen Milieus kommen oft erst zu uns, wenn ihr Zustand schon sehr schlecht ist.»

Jeder zehnte erwerbsfähige Brite bezieht aus gesundheitlichen Gründen Sozialleistungen

Gemäss Zahlen der regierungsunabhängigen Organisation Health Foundation leidet inzwischen mehr als ein Drittel der Britinnen und Briten zwischen 18 und 24 Jahren an psychischen Krankheiten – mehr als in allen anderen Alterskategorien. Vor zwanzig Jahren waren die Jungen noch die psychisch gesündeste Altersgruppe.

Etwa ein Viertel aller Briten im erwerbsfähigen Alter gilt als wirtschaftlich inaktiv. Diese Menschen gehen weder einer Erwerbstätigkeit nach, noch sind sie als Arbeitslose auf Jobsuche. Während die Zahl der Inaktiven in den meisten Industrienationen seit dem Ende der Pandemie wieder gesunken ist, steigt sie in Grossbritannien an – vor allem wegen der Zunahme psychischer Erkrankungen.

4 Millionen Briten – das sind 10 Prozent der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren – erhalten Sozialleistungen, weil sie aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können. Bei den Jungen ist der Anteil noch höher. Premierminister Keir Starmer spricht von einer «verlorenen Generation».

Zu den wirtschaftlich Inaktiven zählt der 20-jährige Hassan, der jüngst mit der BBC über seine Probleme sprach. Der junge Mann ist in Birmingham geboren und aufgewachsen. Er berichtet von Lernschwierigkeiten, von Prüfungsangst und Stress und davon, dass er nach dem Abschluss der Mittelschule 2022 in ein Loch gefallen sei. Seither geht er keiner Arbeit nach und besucht keine Schule.

Ursprünglich wollte Hassan an eine Universität gehen, doch er hat die Aufnahme eines Studiums wegen seiner Prüfungsangst und der hohen Studiengebühren immer wieder hinausgeschoben. Dann schickten ihn die Eltern zum Arzt. «Der Stress der vergangenen Jahre war eine Angststörung, die ich lange mit mir herumgetragen habe», sagt er.

Die Diagnose erlaubte es ihm, Sozialleistungen zu beantragen. Da er noch zu Hause lebt, dürfte er knapp 400 Pfund (456 Franken) im Monat beanspruchen, wegen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit hat er Anrecht auf zusätzliche Leistungen. Eigentlich möchte er einen Job finden, sagt Hassan. Da er keine Arbeitserfahrung hat, weiss er aber nicht, wo und wie anfangen, und er hat Angst, den Halt zu verlieren.

Mehr «Todesfälle aus Verzweiflung»

Spätestens seit 2023, als Grossbritannien in einer internationalen Studie zur psychischen Volksgesundheit in 71 Ländern auf dem zweitletzten Platz landete, rätselt man auf der Insel über die Gründe. Kommentatoren führen das schlechte Wetter, den Brexit und die sozialen Netzwerke an oder geisseln den angeblichen Neoliberalismus, der die Bevölkerung depressiv mache.

Der Psychiater Singh betont, dass sich die im europäischen Vergleich markanten sozialen Ungleichheiten im Zug der Pandemie und wegen der steigenden Lebenskosten verschärft hätten. Auch die Kapazitätsengpässe im Gesundheitswesen führt er an, die bei der Behandlung körperlicher und psychischer Beschwerden zu langen Wartelisten geführt hätten.

Zudem verweist Singh auf die vergleichsweise harten Corona-Lockdowns und Schulschliessungen, die die damalige konservative britische Regierung von Boris Johnson verhängt hatte. Er spricht von entwicklungspsychologischen Zeitfenstern – etwa, wenn Kinder im Alter von durchschnittlich elf Jahren selbständiger würden. «Verpasst ein Kind diese Fenster, braucht es umso mehr Ressourcen, um die Schritte später nachzuholen.»

Und was sagt Singh zum Vorwurf, Psychiater diagnostizierten heute eine Krankheit, wo früher von einer Stimmungsschwankung gesprochen worden sei? Singh räumt ein, dass sich die Diagnosen häuften. Doch es gebe handfeste Belege dafür, dass sich der psychische Gesundheitszustand der Bevölkerung verschlechtere. So nehme die Zahl der schweren psychischen Erkrankungen ebenso zu wie die Rate von Suiziden und Selbstverletzungen bei Kindern.

Ein Blick in die Mortalitätsstatistiken der Gesamtbevölkerung zeigt überdies, dass die «Todesfälle aus Verzweiflung» heute häufiger sind als vor der Pandemie. Darunter versteht man in Grossbritannien Suizide sowie Todesfälle wegen Alkoholismus oder Drogenkonsum. 2023 lag die Zahl der «Todesfälle aus Verzweiflung» um einen Viertel höher als im Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2019.

Labour will Kostenexplosion bremsen

Der schlechte psychische Zustand der Bevölkerung belastet den britischen Sozialstaat enorm. 2019, im Jahr vor der Pandemie, gab Grossbritannien knapp 25 Milliarden Pfund (28,5 Milliarden Franken) zur Unterstützung von Erwachsenen aus, die aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können. Im laufenden Jahr sind 45 Milliarden Pfund veranschlagt, und für 2029 werden 55 Milliarden Pfund prognostiziert. Das wäre mehr als eine Verdoppelung der Ausgaben innert zehn Jahren und deutlich mehr als die 39 Milliarden Pfund, die Grossbritannien heute für die Verteidigung ausgibt.

Nun versucht die britische Labour-Regierung unter Keir Starmer, das Steuer herumzureissen. Vergangene Woche präsentierte sie ein Reformpaket, das die Bedingungen für eine Invalidenrente verschärfen soll. So sollen unter 22-Jährige möglichst keine Rente mehr beziehen können. Zudem sollen Invalide das Recht bekommen, einen Job in einer Probezeit zu testen; heute setzen sie mit der Annahme einer Stelle oft ihre Rente aufs Spiel.

In diesem Zusammenhang sprach Starmer daher von Fehlanreizen, die Sozialhilfebezüger von der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit abhielten. «Doch als Labour-Partei glauben wir an die Würde von Arbeit und an die Würde aller Arbeiter», sagte der Premierminister im Unterhaus. Tatsächlich kann das Sozialgeld ähnlich hoch ausfallen wie das Gehalt für einen Job in einer Tieflohnbranche. Für die Altenpflege holte die britische Regierung in den letzten Jahren Hunderttausende von Migranten ins Land, weil sich für diese Arbeit keine Einheimischen finden liessen.

Kürzungen für eine Million Briten

Die Sozialreform ist das brennendste innenpolitische Thema. Eine Million Briten wären von den Kürzungen betroffen, die das Budget um 5 Milliarden Pfund pro Jahr entlasten sollen. Etliche Labour-Abgeordnete sind empört und kritisieren, dass ausgerechnet die erste sozialdemokratische Regierung seit vierzehn Jahren bei den sozial Schwächsten spare. Die konservative Opposition wiederum moniert, dass die Reform angesichts der Kostenexplosion noch immer viel zu zögerlich ausgefallen sei.

Der Psychiater Singh betont, Grossbritannien müsse das Gesundheitswesen reformieren sowie die psychologische Betreuung und die Prävention ausbauen. Auch er begrüsst aber die Bemühungen zur Reintegration in die Arbeitswelt. Es sei wichtig, psychisch Kranke bei der Wiedereingliederung zu begleiten, statt sie bloss unter Druck zu setzen, sagt er. «Es ist unbestritten, dass, wer eine Ausbildung macht oder einer Arbeit nachgeht und aus dem Haus kommt, oft einen neuen Lebenswillen entwickelt.»

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