Samstag, Januar 18

Zur epochalen Tragik Osteuropas hat der Essayist Martin Pollack der Leserschaft Augen und Herzen geöffnet – mit seinem unbestechlich-genauen, elegisch-melancholischen Blick auf das Schicksal des von der Landkarte getilgten multikulturellen Raumes.

Selbst wenn er nur dieses eine Buch verfasst hätte, hätte Martin Pollack im Pantheon der deutschsprachigen Literatur einen Platz auf sicher gehabt.

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Der Exorzismus der jahrzehntelang verdrängten und verharmlosten Nazivergangenheit war eine der Hauptanstrengungen kritischer österreichischer Schriftsteller nach 1945 gewesen. Fast endlos ist die Liste der Namen, die hier Bedeutendes geleistet haben – von Hans Lebert über Ingeborg Bachmann und Albert Drach bis zu Robert Schindel, Elfriede Jelinek und Christoph Ransmayr. Und auch das Feld der Schreibarten, das Unmenschliche zu fassen, ist kaum überblickbar – vom Realismus über die Mythologisierung bis zur Autobiografie, vom Lakonismus über den Dokumentarismus und die Elegie bis zum Sprachberserkertum.

Als Martin Pollack 2004 antrat, seinen Teil zu leisten, war das Feld schon dicht beschrieben und stark vermessen. Der Opfer-Erzählungen gab es viele, die Antiheimatliteratur wider den ganz normalen österreichischen «Faschismus» hatte sich ebenso totgelaufen wie die avantgardistische Übertreibungskunst und das übereifrige Moralisieren derer, welche die Gnade der späten Geburt anstandslos auf ihrem Ego-Konto verbuchten.

Woran es fehlte, war die Geschichte der Täter. Und so fanden bei Martin Pollack zwei Dinge zusammen: sein überragendes literarisches Talent zur wirklichkeitsgesättigten Reportage und zum luziden Essay sowie die Tatsache, dass er der uneheliche Sohn des SS-Sturmbannführers und Nazi-Kriegsverbrechers Gerhard Bast (sowie Stiefsohn des Malers Hans Pollack) war.

Intimer Versuch über Gewalt

«Der Tote im Bunker»: Es muss eine Qual gewesen sein, diesen Text zu schreiben. 1944 als Kriegskind geboren, ging Pollack in seiner Jugend durch ein Familienkartell des Schweigens darüber, dass sein Vater, dessen Leiche 1947 auf der italienischen Seite des Brenners gefunden wurde, ein Nazischerge und Kriegsverbrecher gewesen war.

Erst spät machte er sich daran, das Tabu zu lüften – in der Arbeit des Recherchierens, Dokumentierens, Rekonstruierens, des Verstehens, aber nicht Verzeihens. Im Versuch der Objektivierung indes bleibt jederzeit die Beklemmung spürbar. So ist das Buch ein intimer Versuch über Gewalt und zugleich ein Stück desperater Geschichtsschreibung. Zwischen Fremde und Nähe oszillierend, krallt es sich fest an den Details, um das Ganze am Ende zu verfehlen. Gerade dass es offen scheitert im Begreifen, macht seine literarische Grösse aus.

«Warum ausgerechnet er?» Und: «Was habe ich von ihm geerbt?» Das sind die Fragen, die Pollack umtreiben. Nicht zufällig wandte er sich in seinem Schreiben als Journalist (von 1987 bis 1998 beim «Spiegel», dabei lange als Polen-Korrespondent), Essayist, Historiker und Polnisch-Übersetzer emphatisch in Richtung Osten, wo der Vater als Leiter von Gestapo-Sonderkommandos Schuld auf sich geladen hatte. Es ging auch um das unbewusste Abbüssen von Schuld.

Wie schon sein erstes Buch, «Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann» (2002), eine Rekonstruktion des antisemitisch aufgeladenen Mordvorwurfs an den später weltberühmten Fotografen, ist «Der Tote im Bunker» vieles in einem: eine grosse erzählende Reportage, eine archäologische Spurensuche und ein mentalitätsgeschichtlicher Essay. Hinzu kommen ein Familienroman und eine Entwicklungsgeschichte.

Was hier entsteht, ist ein Augenöffner. Es entrollt sich ein Panorama deutscher Kultur im steirischen Kronland, das nach der Niederlage des Habsburgerreiches 1918 an Jugoslawien fiel. Im Kulturkampf gegen die slowenische Bevölkerungsmehrheit entwickelte die deutsche Minderheit aus Unfähigkeit zum Dialog und aus Angst vor Überfremdung die Ideologie, ein «Bollwerk gegen die slawische Flut» zu sein.

Sich von «Wien» betrogen wähnend, orientiert man sich antihabsburgisch, antiklerikal und antisemitisch nach Deutschland hin. Die Welt ist getrennt nach Zugehörigkeit und Sprache (worüber man sich im Privaten und Geschäftlichen gern hinwegsetzt – ein Zusammenhang, der in «Die Frau ohne Grab: Bericht über meine Tante» von 2019 wieder auftaucht). Es kündigt sich in der hysterischen Verteidigung des eigenen «Volkstums» an, was «später mit blutigem Ernst und mörderischer Perfektion exekutiert werden sollte»: «die Ausmerzung des Fremden».

Gerhard Bast saugt die stramm deutschnationale Einstellung mit der Muttermilch ein. Dass sich der Student und Burschenschafter in Graz der nationalsozialistischen Bewegung anschliesst, ist nur konsequent. Seine Loyalität wird ihm nach dem «Anschluss» vergolten. Geschult im Hass gegen das Bestehende, sich voll den Idealen der Partei unterordnend, wird er als junger, energischer Jurist in der Gestapo Karriere machen. Was folgt, ist die Logik der Eskalation.

Geschichte von unten

An jeden Hinweis klammert sich Pollack, dass Bast nicht das Monstrum gewesen ist, das er zu sein scheint. Indes wird Grossmutters Diktum, er sei stets «anständig» gewesen, noch und noch widerlegt. Der Vater musste von Beginn an gewusst haben, was er tat. Und doch erscheint seine Person komplex – dem Bild des gefühlskalten Machers und Machtmenschen steht der gesellige und begeisterte Bergsteiger und Skifahrer gegenüber. Pollack sieht sich ausserstande, Lebenslust und Vernichtungswahn, den Familienmenschen und den Verbrecher gedanklich zusammenzuführen. Zuletzt muss er erkennen, dass er so gut wie nichts über den Menschen weiss, der sein Vater war.

Schliesslich ist da das Milieu, das den Nationalsozialismus über den Untergang des «Dritten Reichs» hinaus trägt: die Mutter mit ihrer Kunst, Realitäten auszublenden; die Grossmutter, die auf ihre Ideale nichts kommen lässt; der Grossvater, ein Drahtzieher an der Heimatfront, der später nur am Rand beteiligt gewesen sein will; der Stiefvater, der um jeden Preis darum bemüht ist, den Schein honoriger Bürgerlichkeit zu wahren; die Nachbarn, die nach dem Krieg das verlogene Spiel um Basts «tragisches» Schicksal mitspielen. Als Objekt einer obskuren Wiedergutmachungsbegierde wird der Knabe mit Liebe geradezu überschüttet. Doch ist vieles auch echt – wie die Zuneigung des Stiefvaters und die Erzählkunst des Grossvaters, eines «verbohrten Nazis», an den der Bub «nur gute Erinnerungen» hat.

Gefühle zeige man nicht, wurde Martin Pollack als Kind beigebracht. In einem kühnen Geschichts- und Prosawerk voll Zärtlichkeit und Schmerz hat er sich dem Verdrängen verweigert, ohne der Vergangenheit Unrecht widerfahren zu lassen. Alle seiner Bücher und vielen Stücke über Ostmitteleuropa und dessen tragische Historie atmen den Geist der Neugier, der Einfühlung und der (inneren) Befreiung. Überall, wo er Geschichte und Erinnerung vom Wüten und Lügen der Diktaturen «kontaminiert» fand, lief Pollack zu Hochform auf.

Der Band «Kaiser von Amerika. Die grosse Flucht aus Galizien» (2010) über die Auswanderung aus dem Armenhaus der Habsburgermonarchie, ist ein Meisterwerk des Tragischen, Komischen und Grotesken. Bauerntöchter, Handwerker, jüdische «Luftmenschen» liessen sich blenden vom Versprechen auf eine glänzende Zukunft – und gerieten auf ihrer langen Reise in die Fänge von Zuhältern, Schleppern und Menschenhändlern.

Was ostmitteleuropäische Topografien angeht, hat Martin Pollack der deutschsprachigen Leserschaft mit seiner meisterlichen Prosa die Augen und Herzen geöffnet – mit seinem unbestechlich-genauen, elegisch-melancholischen Blick auf die von der europäischen Landkarte getilgten multikulturellen Räume jenseits von Donau und Oder.

Geschichte werde von den Siegern geschrieben, heisst es oft. Martin Pollack ist einer von denen, welche dies bleibend geändert haben. Mittlerweile gibt es ein Heer von Historikern und Schriftstellern, die mit skeptischer Moral und intellektueller Redlichkeit die Perspektive der Erniedrigten und Ermordeten einnehmen und auch nicht zögern, die Schlampigkeiten und Sünden der Gegenwart zu benennen. Auch Pollack, bis zuletzt ein hellwacher Zeitgenosse, beobachtete die neoautoritären Entwicklungen in Ostmitteleuropa mit Sorge und Skepsis.

Martin Pollack, der am 17. Januar in Wien nach langer Krankheit im Alter von achtzig Jahren gestorben ist, ist den Abgründen seiner Herkunft nichts schuldig geblieben. Es gilt, dies als sein Geschenk an die Welt zu begreifen.

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