Mittwoch, Oktober 30

Die Konsumwelt ist voller Mythen. Dazu gehört auch die Plastikhülle der Gurke. Dabei sind die Plastikverpackungen weit besser als ihr Ruf.

«In den sozialen Netzwerken ist die verpackte Gurke für die Migros seit Jahren ein Thema», sagt Hanna Krayer, «bei Vorträgen werde ich darauf angesprochen, und im privaten Umfeld rede ich ständig über die Gurke.» Krayer arbeitet in der Nachhaltigkeitsabteilung des Migros-Genossenschafts-Bunds (MGB) und macht diese Beobachtung immer wieder: «Die verpackte Gurke steht stellvertretend für die ganze Plastikdebatte.»

Warum regen sich so viele Menschen über zwei Gramm Plastikfolie rund um ein Gemüse auf? Bei der Gurke prallen Gefühlswelt und Faktenwelt aufeinander. Aus emotionaler Sicht ist es verständlich, dass viele Menschen irritiert sind, wenn ein Frischgemüse in Plastik eingeschweisst ist. Sie sehen die Verpackung als unnötigen Abfall. Ähnlich ist es bei anderen Gemüsen wie Brokkoli, Blumenkohl oder Salaten.

Plastik verringert Food-Waste

Aber die Fakten sprechen eine andere Sprache. «Die verpackte Gurke ist aus ökologischer Sicht eine sinnvolle Lösung», sagt die Verpackungsexpertin Krayer. «Das ist unter Fachleuten unbestritten.»

Dass die verpackte Gurke besser ist als ihr Ruf, hat einen zentralen Grund: Sie ist fünfmal so lange haltbar wie eine unverpackte. Sie muss deshalb viel seltener weggeworfen werden. Das ist für die Ökobilanz um Faktoren wichtiger als die zwei Gramm Plastikfolie.

«Wie viele Gemüse haben Gurken einen sehr hohen Wasseranteil», erklärt Hanna Krayer. «Die Plastikfolie sorgt dafür, dass eine Gurke rund 15 Tage lang knackig bleibt. Eine unverpackte Gurke hingegen beginnt bereits nach drei Tagen zu welken.»

Diese Erfahrung hat die Migros selbst bei Versuchen gemacht. Der Ausschuss bei Wintergurken habe sich verachtfacht, als man mit Lösungen ohne Verpackung experimentiert habe, sagt Krayer. «Als Detailhändlerin wollen wir jedoch Food-Waste möglichst eliminieren. Jedes weggeworfene Lebensmittel ist eine Verschwendung – sowohl aus ökologischer wie aus ökonomischer Sicht.»

Falscher Fokus der Konsumenten

Der tiefere Grund hinter dem Gurken-Streit ist, dass viele Konsumentinnen und Konsumenten falsche Vorstellungen davon haben, was den Umweltfussabdruck von Lebensmitteln ausmacht. In Umfragen sagt die Schweizer Bevölkerung, dass sie die Verpackung und den Transport für besonders umweltbelastend halte. Deshalb sehen die Konsumenten regionale Lebensmittel und unverpackte Produkte positiv.

Aber diese Wahrnehmung trügt. Der allergrösste Teil der Umweltwirkungen von Lebensmitteln fällt bei der landwirtschaftlichen Produktion an. «Beim Nahrungsmittelsortiment der Migros stammen rund 80 Prozent des Umweltfussabdrucks aus der Produktion», sagt Krayer. Hingegen mache die Verpackung nur rund 3 Prozent und der Transport zwischen 5 und 10 Prozent aus.

Das ist auch bei der Salatgurke so. Die Produktion hat Folgen für die Umwelt: Für die Aufzucht braucht es Boden und Wasser, das Gemüse wird gedüngt und allenfalls mit Pflanzenschutzmitteln behandelt. Die Umweltwirkungen dieser Produktionsschritte sind ungleich grösser als der Effekt der Plastikfolie.

Für den Klimaeffekt zählt der Anbau

Wissenschaftliche Studien belegen die Zusammenhänge. In Österreich haben Forscher den Klimafussabdruck bei Salatgurken und anderen Lebensmitteln untersucht (gemessen in sogenannten CO2-Äquivalenten). Bei der Salatgurke ist die Klimawirkung der Produktion 53-mal so gross wie der Klimaeffekt, der durch die Herstellung und die Entsorgung der Plastikfolie entsteht.

Gleichzeitig beobachteten die Forscher bei Versuchen im österreichischen Detailhandel, dass verpackte Gurken nur halb so oft aussortiert werden mussten wie unverpackte. Der vermiedene Food-Waste fiel ins Gewicht: «Der Nutzen des reduzierten Gurkenabfalls ist dreimal höher als der Aufwand für die Verpackung», schreiben die Forscher.

Die verpackte Gurke ist ökologischer

Klimabilanz von verpackten Salatgurken im Vergleich mit unverpackten Gurken, in Gramm CO₂-Äquivalente pro Kilogramm Gurke

Diese Zahlen illustrieren, warum die verpackte Gurke aus ökologischer Sicht die überlegene Lösung ist. Sie sind auch der Grund, warum bei der Migros Wintergurken, die meist aus Spanien kommen, weiterhin in Plastikfolie eingeschweisst werden.

Hingegen verzichtet die Detailhändlerin bei Sommergurken, die aus Schweizer Produktion stammen, auf eine Plastikverpackung. Das liegt daran, dass die einheimische Ware schneller in die Läden kommt und das Risiko, dass sie zu Ausschuss wird, geringer ist.

Allerdings gilt diese Betrachtung nur bis zur Supermarktkasse. In den Haushalten drohen unverpackte Gurken ebenfalls schneller zu verderben als verpackte Ware. Es ist aus ökologischer Sicht deshalb sinnvoll, wenn Konsumenten Gurken im Kühlschrank lagern und sie nach dem Anschneiden in Klarsichtfolie hüllen, um Food-Waste zu vermeiden.

Karton ist nicht immer überlegen

Die Migros stellt wie viele andere Detailhändler umfangreiche Überlegungen darüber an, welche Verpackungslösung man für welches Lebensmittel wählt. «Der wichtigste Zweck einer Verpackung ist, ein Nahrungsmittel zu schützen», sagt die Expertin Krayer. «Gerade bei Frischprodukten ist Plastik oft unschlagbar. Es ist super effizient, weil man mit sehr wenig Material eine grosse Menge an Lebensmitteln schützen kann. Plastik lässt sich zudem in alle möglichen Formen bringen.»

Hingegen ist der Nachteil von Plastik, dass es aus Erdöl hergestellt wird. Demgegenüber basieren beispielsweise Papier und Karton auf dem nachwachsenden Rohstoff Holz. Allerdings haben auch Kartonverpackungen eine Schattenseite: Sie bringen mehr Gewicht auf die Waage, beim Reis beispielsweise fallen sie siebenmal so schwer aus wie Plastikbeutel. Der grössere Materialaufwand macht den ökologischen Vorteil rasch zunichte.

Was aus Umweltsicht die optimale Verpackung darstellt, ist eine knifflige Frage. Die Lebensmittelindustrie und die Detailhändler bemühen sich um neue Lösungen. Die Migros hat etwa dieses Jahr für Osterhasen eine neuartige Fasergussverpackung verwendet, die aus Papier und Reststoffen der Pommes-frites-Produktion hergestellt wird und die in die Kartonsammlung gegeben werden kann. Zudem druckt die Migros auf immer mehr Eigenmarken einen «M-Check» auf, der die Konsumenten über die Nachhaltigkeit der gewählten Verpackung informiert.

Recycling zur Gewissensberuhigung?

Viele Menschen haben trotzdem weiterhin Mühe mit Plastikverpackungen. Aus psychologischer Sicht ist dies verständlich: Die Verpackung ist – ähnlich wie die Herkunft eines Lebensmittels – ein gut sichtbarer Aspekt. Für die Konsumenten liegt er näher als die komplizierte Frage , welche Umweltbelastung bei der Produktion eines Lebensmittels anfällt.

Die Konsumenten stehen mithin vor einem Dilemma: Plastikverpackungen sind verpönt, aber gleichzeitig allgegenwärtig. Als Ausweg bietet sich das Recycling an. Es verspricht das Gewissen der Menschen zu beruhigen: Wenn schon Plastikverpackungen nötig sind, dann werden sie wenigstens wiederverwertet.

Politik und Detailhandel haben den Ball aufgenommen. Die Migros bietet vielerorts seit zwei Jahren einen kostenpflichtigen Plastiksammelsack an, mit dem die Kunden Plastikabfälle in die Filialen zurückbringen können. Zudem haben zahlreiche Gemeinden mittlerweile Plastiksammlungen etabliert. Bald soll es eine schweizweite Lösung geben: Nach einiger Verzögerung ist für das Jahr 2025 die Einführung eines landesweiten Plastikrecyclingsystems geplant.

Die Migros steht hinter diesen Projekten. «Das Plastiksammeln ist ein wichtiger Ansatzpunkt, um die Wertstoff-Kreisläufe zu schliessen – sowohl innerhalb der Migros-Gruppe als auch in der ganzen Schweiz», sagt die Expertin Krayer. Bei der Detailhändlerin sieht man die Sammelsysteme als eine Investition in die Zukunft. Auch in der EU wird der Aufbau einer Kreislaufwirtschaft vorangetrieben.

Plastiksammeln als «wirkungsloses Ritual»

Die schlechte Nachricht für die Konsumenten ist: Auch das Plastikrecycling ist umstritten. Zu den Kritikern gehört der Umwelttechnik-Professor Rainer Bunge von der Fachhochschule Ostschweiz. Er hat in einer Studie zuhanden von Bund und Kantonen die Wirtschaftlichkeit des Plastikrecyclings untersucht.

«Kunststoffsammlungen bringen ökologisch wenig, sind aber sehr teuer», fasst der Wissenschafter die Resultate zusammen. Das Plastikrecycling habe aus Umweltsicht kaum Vorteile gegenüber einer Verbrennung des Mülls in Kehrichtverbrennungsanlagen, denn Letzteres liefere wertvolle Energie in Form von Strom und Wärme.

«Wenn eine Person ein Jahr lang Plastik rezykliert, bringt das aus ökologischer Sicht gleich viel, wie wenn sie ein einziges Grillsteak weniger isst oder auf eine Autofahrt von 30 Kilometern verzichtet.» Plastiksammeln sei deshalb ein «weitgehend wirkungsloses Ritual zur Gewissensberuhigung», sagt Bunge. Aber immerhin sei die Sammelqualität in der Schweiz so gut, dass das Sammelgut nicht über dubiose Wege in Schwellenländern lande, wie das etwa beim deutschen System immer noch passieren könne.

Schlechtes Kosten-Nutzen-Verhältnis

Gleichzeitig sind Kunststoffsammlungen vergleichsweise teuer. Laut der Studie ist ihre Ökoeffizienz – wie viel Umweltschutz wird pro eingesetztem Franken erzielt – nur ein Drittel so gross wie bei der Schweizer PET-Sammlung. Am besten schneiden die bestehenden Sammelsysteme für Aluminium oder Elektrogeräte ab. «Im Vergleich mit anderen Recyclingmassnahmen sind Kunststoffsammlungen geradezu ein Luxusgut», erklärt Bunge.

Plastikrecycling ist teuer, bringt aber wenig

Ökoeffizienz verschiedener Recyclingsysteme (vermiedene Umweltbelastungspunkte pro Kostenfranken)

Warum wird dennoch bald ein landesweites Plastikrecycling in der Schweiz eingeführt? «Politiker schauen auf Wählerstimmen», meint der Umwelttechniker, «was sich gut anfühlt, wird gemacht.» Die Umweltpolitik habe sich von den Fakten gelöst. Es werde nicht überlegt, was ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis habe.

Für das Plastikrecycling dürfte also das Gleiche gelten wie für den Unmut über die verpackte Gurke: Wenn die besorgten Konsumenten sich fragen, wie sie am besten die Umwelt schützen können, beschäftigen sie sich meist mit Nebenaspekten.

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