Mittwoch, Januar 15

Seine Konversion zum Trumpismus macht J. D. Vance erst zum idealen Vizepräsidentschaftskandidaten. Er zeigt Trump gegenüber unbedingte Loyalität. Hinzu kommt seine Lebensgeschichte: vom Hillbilly zum Yale-Absolventen.

J. D. Vance war der Liebling der Feuilletons. Seine «Hillbilly-Elegie» wurde als Erklärbuch für den Aufstieg von Donald Trump gefeiert. Daneben lieferte der Autor den Medien genau die Zitate, die besorgte und empörte Bürger hören wollen. Trump sei eine «Droge für die Massen», sagte er in einem Interview. Im privaten E-Mail-Verkehr rätselte er, ob es sich bei Trump eher um ein «zynisches Arschloch wie Nixon» oder «Amerikas Hitler» handle. Dass Trump nun ausgerechnet diesen Mann als Vizepräsidentschaftskandidaten ausgewählt hat, sagt einiges über Trump aus, aber auch über Vance.

Wer die «Hillbilly-Elegie» heute liest, stösst auf ein lesenswertes, aber nicht auf ein sensationelles Buch. Um zu verstehen, warum die Familiengeschichte von Vance bei ihrem Erscheinen 2016 so frenetisch besprochen wurde, muss man sich vergegenwärtigen, wie wenig beachtet das Milieu damals war, das der Autor beschrieb. Und wenn doch, wie pejorativ es vom politischen Establishment behandelt wurde: Hillary Clinton sprach von einem «basket of deplorables» (einem Korb voller Bedauernswerter).

Der weissen Unterschicht nahmen sich die Journalisten erst richtig an, als sie sich im November 2016 erschrocken die Augen rieben und feststellen mussten, dass Donald Trump die amerikanische Präsidentschaftswahl gewonnen hatte.

Sei bloss kein Verlierer

Vance beschreibt in der «Hillbilly-Elegie» das Leben seiner Familie, die aus den Bergen und Hügeln der Appalachen wegzog, um ihr Glück in Middletown, einer Stadt in Ohio, zu finden. Der Grossvater arbeitete für das Unternehmen Armco Steel, das mehr oder weniger die ganze Stadt beschäftigte. Das Buch ist die Biografie des damals 31-jährigen Vance, aber auch das Porträt eines Milieus. «Amerikaner nennen sie Hillbillys, Rednecks oder White Trash», schreibt Vance. «Ich nenne sie Nachbarn, Freunde und Verwandte.»

Damit ist der Ton gesetzt. So abgründig viele Erzählungen auch sind, Vance rechnet weder mit seinem Milieu noch mit dem Staat ab. Es ist vielmehr das Buch eines Patrioten, der gleichwohl nichts beschönigen möchte. «Ich bin überzeugt, dass wir Hillbillys die zähesten, unerschütterlichsten Menschen der Welt sind. Wer unsere Mütter beleidigt, wird mit einer elektrischen Säge traktiert», schreibt Vance und fragt doch: «Sind wir zäh genug, um in den Spiegel zu sehen und zuzugeben, dass unser Verhalten unseren Kindern schadet? Die Politik kann uns unterstützen, aber keine Regierung der Welt kann diese Probleme für uns lösen.»

Über dem Leben steht die Idee der Selbstverantwortung. «Werd bloss nicht so ein beschissener Verlierertyp, der denkt, dass sich alles gegen ihn verschworen hat», zitiert Vance seine Grossmutter, die er Mamaw nennt. «Alles, was du dir vornimmst, kannst du erreichen.» Und daraus kann man eine gewisse Hoffnung lesen. Selbst in der weissen amerikanischen Unterschicht scheint der American Dream weiterzuleben.

Die Grossmutter, eine durchgeknallte Waffennärrin

Die Mutter ist drogenabhängig, der Vater abwesend – das heisst, viele Väter kommen und gehen. Die Hillbillys zelebrieren zwar den Stellenwert der Arbeit, tatsächlich gehen aber viele gar nicht hin oder verlieren ihre Jobs aus Faulheit oder Unzuverlässigkeit. Um Vance kümmert sich hauptsächlich die Grossmutter, die der Enkel zwar als liebevoll, aber auch als «durchgeknallte Waffennärrin» und als Messie beschreibt. Die Pistolen sind immer griffbereit, liegen in den Manteltaschen oder unter dem Autositz. Die Grossmutter schreckt auch nicht davor zurück, ihren alkoholsüchtigen Mann in der Wut anzuzünden.

Es gibt Liebe und Fürsorge, aber die Gewalt ist allgegenwärtig. Als Erster zuschlagen solle man nicht, lehrt die Grossmutter, es sei denn, die Familie werde angegriffen. Zu Hause kann man sich gegenseitig verprügeln, aber wenn ein Verwandter angegriffen wird, schliesst man sich gegen die äusseren Feinde zusammen. So will es der Ehrenkodex.

Als er ein neunmonatiges Baby gewesen sei, habe seine Mutter ihm zum ersten Mal Pepsi ins Fläschchen gegossen, schreibt Vance. Zahnprobleme sind ein verbreitetes Phänomen. Vance schreibt vom «Mountain-Dew-Mund», verursacht durch den übermässigen Konsum zuckerhaltiger Getränke. Das Essen wird hauptsächlich frittiert.

Man kann sich vorstellen, wie dieses Buch bei vielen Lesern eine Art Gruseln ausgelöst hat: Hier schien es also irgendwo im Land eine archaische, heruntergewirtschaftete Parallelgesellschaft zu geben, vergessene Cousins und Cousinen. Und diese Leute wählten Trump.

Erziehung in den amerikanischen Institutionen

Die Geschichte von Vance ist aber auch die Geschichte des amerikanischen Traums und der Leistungsgesellschaft. In lichten Momenten liest die Mutter mit ihrem Kind, der Grossvater rechnet mit dem Enkel. Die Vorstellung, dass die Nachkommen dereinst ihr Geld mit geistiger Arbeit verdienen, stösst im Arbeitermilieu keineswegs auf Ablehnung. Nur ist das Milieu kaum in der Lage, die Kinder darauf vorzubereiten.

Vance erzählt schliesslich den Prozess einer zunehmenden Zivilisierung durch die amerikanischen Institutionen. In der Armee, bei den Marines, erfolgt eine radikale Ernährungsumstellung, später werden die Sitten an der Yale-Universität, wo er ein Stipendium bekommt und Jus studiert, verfeinert. Beschämt stellt er fest, dass er von den Spielregeln dieser Welt keine Ahnung hat, aber dass sein Erfolg davon abhängig ist, sie zu kennen. Vom Unterschied zwischen Sauvignon blanc und Chardonnay und davon, wie man das Buttermesser beim Lunch einsetzt.

95 Prozent der juristischen Fakultät in Yale gehörten der oberen Mittelschicht oder der Oberschicht an, schreibt Vance. Seine Initiation beschreibt er als einen Kulturschock. Schliesslich ist es eine Professorin an der Uni, die ihn dazu ermutigt, seine Memoiren zu schreiben.

Mit 31 Jahren hatte Vance einen Bestseller, der später verfilmt wurde; mit 38 Jahren wurde er in den amerikanischen Senat gewählt. Allein der Umstand, dass er sein Land und einen massgeblichen Teil seiner Bevölkerung in einem Buch so genau analysiert hat, macht ihn zu einer ausserordentlichen politischen Erscheinung.

Von Hitler zum Heiland

So richtig nachvollziehbar konnte er seinen Wandel zum Trumpisten nie machen. Vance behauptet, es habe auch mit der Reaktion auf sein Buch zu tun. Er fühlte sich von einem Teil des Publikums instrumentalisiert, wie er in einem Interview in der «New York Times» sagte. Ihm sei klargeworden, «dass ich als Flüsterer eines Phänomens benutzt wurde, das einige Leute wirklich verstehen wollten, andere aber nicht». Zunehmend habe er das Bedürfnis gespürt, sich vom liberalen Establishment zu lösen. Wie viele andere habe er sich lange zu sehr auf das «stilistische Element» von Trump konzentriert und dabei nicht gesehen, was Trump in der Aussenpolitik, im Handel und bei der Einwanderung anbiete.

Heute gehört Vance zu den glühenden Verehrern von Trump. Von Hitler zum Heiland – J. D. Vance kann seine radikale Neubewertung von Trump aber letztlich nicht überzeugend erklären. «Er ist viel komplexer, als die Medien ihm zugestehen», sagt er etwa und signalisiert damit, dass Trump in der persönlichen Begegnung anders sei. Sicher ist, dass er sich nun Trump ganz verschrieben hat.

Im Interview mit der «New York Times» wurde dies an keiner Stelle so deutlich wie bei den Fragen um den Sturm aufs Capitol. Trump hatte seinen damaligen Vize Mike Pence öffentlich dazu aufgerufen, die Beglaubigung von Bidens Wahlsieg zu blockieren. Pence weigerte sich und wurde damit selbst zur Zielscheibe des Mobs, den Trump damals angestachelt hatte. Vance sagte dazu: «Ich möchte klarstellen, dass ich nicht zugestehe, dass Trump hier etwas grundsätzlich Schlechtes getan hat.» Die unbedingte Loyalität, die Pence Trump im kritischen Moment versagte, stellte Vance nun demonstrativ zur Schau.

Vielleicht hatte Vance eine Art politische Erweckung, vielleicht sieht er Trump einfach als Steigbügelhalter für seine eigene Karriere, sicher aber ist, dass er sich seine Karriere unter Trump mit unbedingter Loyalität erkaufen musste.

Trump liebt Loyalität

«J. D. Vance küsst mir den Arsch, er will unbedingt meine Unterstützung», sagte Trump 2022. Dass er ihn nun als Vize nominiert hat, zeigt, dass er genau dieses Verhalten honoriert. Besser als ein Trumpist ist für ihn nur noch ein Trumpist, der vorher keiner war. Denn wer verteidigt die reine Lehre feuriger als einer, der zu ihr übergetreten ist?

Zwei Faktoren kommen hinzu. Eine solch radikale Wandlung öffentlich zu vollziehen, wie es Vance gemacht hat, ist ein Akt der Selbsterniedrigung. Er löst Spott und Häme aus. Dass Vance bereit war, diese auf sich zu nehmen, zeigt Trump, wie sehr ihm dieser ergeben ist. Und wie mächtig seine eigene Position geworden ist.

Hinzu kommt die Message an die Wähler: Es ist nie zu spät, dem Make-America-great-again-Kult beizutreten. Und wie unwiderstehlich die Bewegung ist, offenbart niemand besser als der Konvertit J. D. Vance.

Viele Kommentatoren analysieren, dass Trumps Wahl von Vance wenig Sinn ergebe, da dieser als eine Art Klon von ihm nicht in der Lage sei, neue Wähler zu erschliessen. Tatsächlich eröffnet Vance den Republikanern keine neuen Welten. Neben seiner Loyalität bietet er Trump dennoch weitere Vorteile: Mit 40 Jahren ist er deutlich jünger als Trump, er kompensiert dessen Alter. Wo Trump vor allem Impuls zu bieten hat, liefert Vance Ideologie – man sieht bei ihm Versuche, die fahrige Trump-Politik in ein kohärentes konservatives Programm zu rücken. Vor allem aber hat Vance seine Biografie: Er kennt die weisse Unterschicht, weil er selbst von da kommt, er ist Irakkrieg-Veteran und Yale-Absolvent, in ihm spiegeln sich die Möglichkeiten eines amerikanischen Lebens.

Das Bekenntnis zu Mountain Dew

Seine Ausgangslage ist allerdings nicht leichter geworden, seit Joe Biden seinen Rücktritt angekündigt und sich die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris für Tim Walz als ihren Vize entschieden hat: Militärveteran, Waffenbesitzer, über viele Jahre Lehrer und Football-Coach, ein Mann, der sich gern bodenständig gibt.

J. D Vance sagte kürzlich, die Demokraten erklärten alles für «rassistisch», was Amerikaner gern machten. «Ich habe gestern eine Diet Mountain Dew getrunken und heute wieder. Ich bin mir sicher, dass sie das auch rassistisch nennen werden.» Jetzt tritt er gegen einen Demokraten an, der sagt, Mountain Dew sei sein Lieblingsgetränk.

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